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Waylander der Graue

Waylander der Graue

Titel: Waylander der Graue
Autoren: David Gemmell
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er.
    »Die Wunden können noch nicht verheilt sein«, erklärte sie streng. »Die Fäden sollten mindestens zehn Tage drin bleiben. Mein Onkel …«
    »… war ein sehr kluger Mann«, sagte der Graue Mann. »Aber sieh selbst.«
    Keeva ging näher zu ihm und untersuchte die Wunden. Er hatte recht. Die Haut war verheilt, und es hatte sich bereits Narbengewebe gebildet. Sie nahm sein Jagdmesser, schnitt behutsam die Fäden durch und zog jedes Stück heraus.
    »Ich habe noch nie gehört, dass bei einem Menschen Wunden derart schnell heilen«, sagte sie, während er sein Hemd wieder anzog. »Verstehst du etwas von Magie?«
    »Nein. Aber ich wurde einmal von einem Ungeheuer geheilt. Das hat mich verändert.«
    »Ein Ungeheuer?«
    Er grinste sie an. »Ja, ein Ungeheuer. Über zwei Meter groß mit einem einzigen Auge in der Mitte der Stirn – einem Auge, das zwei Pupillen hatte.«
    »Du machst dich über mich lustig«, tadelte sie.
    Der Graue Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Er hieß Kai. Er war eine Laune der Natur, ein Tiermensch. Ich lag im Sterben, und er legte seine Hände auf mich, und alle meine Wunden schlossen sich – heilten in Sekundenschnelle. Seitdem war ich nie krank, im Winter nie erkältet, hatte nie Fieber oder auch nur Furunkel. Ich denke manchmal, dass selbst die Zeit für mich langsamer vergeht, denn ich sollte eigentlich meine Tage damit verbringen, in einem bequemen Sessel mit einer Decke auf den Knien zu sitzen. Er war ein guter Mann, Kai.«
    »Was geschah mit ihm?«
    Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er irgendwo glücklich, vielleicht ist er auch tot.«
    »Du hast ein interessantes Leben gehabt«, sagte sie.
    »Wie alt bist du?«, fragte er.
    »Siebzehn.«
    »Von Räubern entführt und in den Wald verschleppt. In Zukunft wird es Menschen geben, die davon hören und sagen: ›Du hast ein interessantes Leben geführt.‹ Was wirst du ihnen antworten?«
    Keeva lächelte. »Ich werde ihnen beipflichten, dann werden sie mich beneiden.«
    Da lachte er voller Humor. »Du gefällst mir, Keeva«, sagte er. Dann legte er Holz aufs Feuer, streckte sich aus und deckte sich zu.
    »Du gefällst mir auch, Grauer Mann«, sagte sie.
    Er antwortete nicht, und sie sah, dass er bereits schlief.
    Sie betrachtete sein Gesicht im Feuerschein. Er war stark - das Gesicht eines Kämpfers –, doch sie konnte keine Grausamkeit darin entdecken.
    Keeva schlief und erwachte bei Morgengrauen. Der Graue Mann war schon auf. Er saß am Bach und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann begann er, mit seinem Jagdmesser die schwarzgrauen Stoppeln von Kinn und Wangen zu schaben. »Hast du gut geschlafen?«, fragte er, als er zum Feuer zurückkam.
    »Ja«, antwortete sie. »Traumlos. Es war herrlich.« Er sah ohne die Bartstoppeln viel jünger aus, vielleicht wie ein Mann in den späten Dreißigern. Sie überlegte kurz, wie alt er wohl sein mochte. Fünfundvierzig? Fünfundfünfzig? Gewiss nicht älter.
    »Wir sollten dein Dorf gegen Mittag erreichen«, sagte er.
    Keeva schauderte, als sie an die ermordeten Frauen dachte. »Dort gibt es nichts mehr für mich. Ich lebte bei meinem Bruder und seiner Frau. Sie sind beide tot, das Haus niedergebrannt.«
    »Was hast du vor?«
    »Ich gehe nach Carlis und suche mir Arbeit.«
    »Hast du denn irgendetwas gelernt?«
    »Nein, aber ich kann lernen.«
    »Ich könnte dir Arbeit in meinem Haus anbieten«, schlug er vor.
    »Ich möchte nicht deine Geliebte werden«, erklärte sie.
    Er lächelte breit. »Habe ich dich darum gebeten?«
    »Nein, aber warum sonst solltest du mir anbieten, mich mit in deinen Palast zu nehmen?«
    »Hältst du so wenig von dir selbst?«, entgegnete er. »Du bist intelligent und tapfer. Ich glaube auch, dass du vertrauenswürdig bist und dich loyal zeigen würdest. Ich habe hundertdreißig Dienstboten in meinem Haus und unterhalte oft mehr als fünfzig Gäste. Du müsstest Zimmer sauber machen, die Betten für diese Gäste machen und in der Küche helfen. Dafür zahle ich dir zwei Silberstücke pro Monat. Du bekommst dein eigenes Zimmer und einen Tag pro Woche frei. Denk darüber nach.«
    »Ich nehme an«, sagte sie.
    »Dann soll es so sein.«
    »Warum hast du so viele Gäste?«
    »Mein Haus – mein Palast, wie du ihn nennst – beherbergt mehrere Bibliotheken, ein Krankenhaus und ein Museum. Aus ganz Kydor kommen Gelehrte, um dort zu studieren. Auch gibt es im Südturm ein separates Zentrum für Studenten und Ärzte, wo sie medizinische Kräuter und
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