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Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten
Autoren: Siegfried Lenz
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blickte über das Watt.
    »Tom«, sagte sie, »oh, Tom. Laß uns weggehen von hier, irgendwohin. Laß uns etwas tun, Tom. Ich habe so lange gewartet.«
    »Du hast dir lange etwas vorgemacht«, sagte er, »du hast versucht, etwas zu vergessen, und dabei hast du gewußt, daß du es nie vergessen kannst.«
    »Ja«, sagte sie, »ja, Tom. So etwas kann kein Mensch vergessen. Wenn er es mir gleich gesagt hätte, als er zurückkam, wäre alles leichter gewesen. Ich hätte ihn verstanden, vielleicht, wenn er nur ein Wort gesagt hätte.«
    »Gib mir das Fernglas«, sagte er.
    Die Frau zog das Fernglas vom Bettpfosten, gab es ihm mit dem ledernen Etui, und er öffnete es, hob das Glas und suchte schweigend das Watt ab. »Ich kann ihn nicht finden«, sagte der Mann, »und im Westen kommt die Flut.«
    Er sah die Flut in langen Stößen von Westen herankommen, flach und kraftvoll über das Watt hin ziehend; sie rollte vor, verhielt einen Augenblick, als ob sie Atem schöpfe, und stürzte sich in Rinnen und Priele, und kam dann wieder schäumend aus ihnen hervor, bis sie die eiserneSpundwand erreichte, sich sammelte und hochstieg an ihr und unmittelbar neben dem schrägen Steinufer weiterzog, so daß die dunkle Fläche des Watts gegen Osten hin abgeschnitten wurde.
    »Die Flut ist pünktlich«, sagte er. »Auch dein Mann war pünktlich bisher, aber ich kann ihn jetzt nicht sehen.«
    »Laß uns weggehen von hier, Tom, irgendwohin.«
    »Er kann es nicht mehr schaffen! Hörst du, was ich sage? Er ist abgeschnitten von der Flut, weißt du das?« »Ja, Tom.«
    »Er war jeden Tag pünktlich zurück, lange vor der Flut. Warum ist er noch nicht da? Warum?«
    »Seine Uhr, Tom«, sagte sie, »seine Uhr geht heute nach.«
    1953
     
     
     
     
    Das auffallendste bei einem Flug über die deutsche Nordseeküste ist doch wohl die Kette der Inseln. Kein Land – außer Holland – hat eine solche aufzuweisen. Von Wangerooge bis Borkum liegen sie vor dem Festland, eigentlich jede wie eine lange Sandbank, ohne erhebliche Erhöhungen außer dem Zug der Dünen und manchmal einer niedrigen Steilkante.
    Aber wie kann man an ihnen die Arbeit, die Gewalt desMeeres erkennen! Wie die Flut vom Westen aufkommt, so wird am Westende der Inselsaum angenagt, fortgespült, zerrissen. Und mit dem Zug der Strömung wird dieser gleiche Sand am Ostende wieder angeschwemmt, denn die Ebbe ist hier zu schwach, ihn wieder zurückzunehmen. So wandern die Inseln stetig nach Osten und verändern ihre Form in jedem Jahrzehnt. 200 Jahre errechnete man für die zwei Kilometer Wanderschaft, die Wangerooge hinter sich hat. Der alte Turm, der ursprünglich in der Mitte des Dorfes stand, hält sich nun gerade noch am äußersten Rande. Manches Haus auf den Inseln mußte aufgegeben werden, Dörfer verschwanden und wurden an anderem Platze wieder neu erbaut.
    Darum haben in jüngster Zeit auch fast alle diese Inseln einen besonders festen Schutzwall erhalten. Basaltene Buhnen strecken sich ins Meer, darüber Mauerwerk, oft mit breiter Krone, die als Wandelgang eine großartige Aussicht bietet.
    Man fragt sich im Binnenland sicher manchmal, ob sich so kostspielige Schutzbauten eigentlich lohnen für ein kleines Eiland voller Sand, auf dem nur wenige Menschen wohnen. Die Fragestellung ist nicht richtig. Mit der Erhaltung der Inseln schützt man zugleich die Festlandküste mit ihrem Marschland.
    Und außerdem – was für ein wunderbares Ferienland ist diese Inselwelt! Wie erfrischt den Binnenländer, den Großstadtmenschen eine Urlaubszeit in Salzluft und Meerwasser! Das haben kluge Leute schon früh erkannt und sich unermüdlich dafür eingesetzt, die nötigenAnlagen für einen richtigen Badebetrieb zu schaffen. Einer davon war der Göttinger Philosoph Lichtenberg. Als man ihm von der umständlichen Reise und der drohenden Seekrankheit sprach, meinte er nur: Da befände man sich ja in guter Gesellschaft, auch der römische Kaiser Augustus machte schon jedes Jahr seine kleine Vomitiv-Reise.
    Norderney hatte seine erste »Saison« schon 1 800. Da gab es bereits ein Konversationshaus mit Speise- und Tanzsaal. Aber dann kam Napoleon und beschlagnahmte alles. Aus der Badeanstalt wurden Kasernen. Die Gäste dieser ersten Jahrzehnte wohnten bei Fischern und Schiffern und hatten vorliebzunehmen mit Quartier und Verpflegung, wie es dort üblich war.
    Auch Heinrich Heine hat das erlebt. Er gibt in seinen Reisebildern von Norderney im Herbst 1826 eine Schilderung, die seiner scharfen Zunge und
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