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Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten
Autoren: Siegfried Lenz
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beißenden Kritik entspricht: »Das Seefahren hat für diese Menschen einen großen Reiz; und dennoch, glaube ich, daheim ist ihnen allen am wohlsten zumute. Sind sie auch auf ihren Schiffen sogar nach jenen südlichen Ländern gekommen, wo die Sonne blühender und der Mond romantischer leuchtet, so können doch alle Blumen dort nicht das Leck ihres Herzens stopfen, und mitten in der duftigen Heimat des Frühlings sehnen sie sich wieder zurück nach ihrer Sandinsel, nach ihren kleinen Hütten, nach dem flackernden Herd, wo die Ihrigen, wohlverwahrt in wollenen Jacken, herumkauern und einen Tee trinken, der sich von gekochtem Seewasser nur durch den Namen unterscheidet,und eine Sprache schwatzen, wovon kaum begreiflich scheint, wie es ihnen selber möglich ist, sie zu verstehen.«
    Das also war der Tee von Norderney – vor 1 50 Jahren.
     
    Neuwerk: Wenn man ihr näher fliegt, dann enthüllt sich so richtig die unerhörte Schutzlosigkeit dieser Insel, flach hingestreckt, keine Erhebung, allenfalls eine vorgelagerte Sandbank – sonst nichts. Eine Insel, die gleichwohl besiedelt ist, die ihre Felder hat, Gemarkungen, präzise Gemarkungen, aber sonst flach, von jeder Sturmflut erreichbar, von jeder Sturmflut bedroht – eine latente Bedrohung. Und es bedeutet schon sehr viel, wenn Leute sich entscheiden, hier unter dieser ständigen Bedrohung zu leben – denn man weiß nie, wann es kommen kann. Ein einziger Turm, der Leuchtturm, der vielleicht für den Krisenfall, für die Krisennacht Zuflucht böte – alles andere würde sofort überschwemmt, alles andere ist einfach Landunter in dem Augenblick der Gefahr.
    Eine Insel, die, so würde man glauben, sich zunächst nicht als Versteck empfiehlt, doch Versteck gewesen ist, nämlich für einen der grandiosen Piraten hier oben an der Küste, für Klaus Störtebeker, der sich hier, zumindest zeitweilig, erholt hat. Hier gab er seiner Mannschaft Gelegenheit auszuruhen, und hier hatte er einen Umschlagplatz für ganz bestimmte Waren – ein vorläufiges Versteck –, bis sie ohne die Gefahr der Entdeckung weitergegeben werden konnten.
    Seit dem Überhandnehmen der Seeräuberei überall vor den Küsten der Nord- und Ostsee war es also direkte Notwehr, wenn die Schiffer und Kaufherren sich zu sichern suchten. So gab der Erwerb der Insel Neuwerk, die zur Hälfte im Besitz des Erzbischofs von Bremen blieb, der für seine Stadt den gleichen Nöten zu steuern hatte, einen doppelten Nutzen.
     
    Wieweit eine frühere Verbindung der Inseln mit dem Festland bewiesen werden kann, weiß man noch nicht, denn in dieser Hinsicht ist man noch zu sehr auf Mutmaßungen angewiesen. Man wird sich angewöhnen müssen, auf sehr viele Überraschungen gefaßt zu sein, wenn die Ozeanographie, die moderne Meereskunde, demnächst mit Resultaten aufwartet – Resultaten, die die Ichthyologie, aber auch die Geographie betreffen. Man ist erst jetzt dabei, die wirklichen Geheimnisse des Meeres zu erforschen, das Meer zu zwingen, Dinge preiszugeben, von denen wir uns bisher kaum etwas träumen ließen. Wenn man schon so positivistisch fragt, muß man sich einiger maßen fasziniert eingestehen, daß Entdeckungen, die heute noch auf der Welt übrigbleiben, zu 95 Prozent im Meer und aus dem Meer gemacht werden müssen.
    Wo die Möwen schreien ... , 1976
     
     
     
     
    Stimmungen der See
     
    Zuerst war Lorenz am Treffpunkt. Er streifte den Rucksack ab und legte sich hin. Er legte sich hinter eine Strandkiefer, schob den Kopf nach vorn und blickte den zerrissenen Hang der Steilküste hinab. Der kreidige Hang mit den ausgewaschenen Rinnen war grau, die See ruhig; über dem Wasser lag ein langsam ziehender Frühnebel, und auf dem steinigen Strand unten war das Boot. Es begann hell zu werden.
    Lorenz schob sich zurück, wandte den Kopf und blickte den Pfad entlang, der neben der Steilküste hinlief, in einer Bodensenke verschwand und wieder zum Vorschein kam, dort, wo er in die lichte Schonung der Strandkiefern hineinführte. Er sah aus der Schonung die massige Gestalt eines Mannes mit Rucksack treten, sah den Mann stehenbleiben und zurücklauschen und wieder weitergehen, bis sein Körper in der Bodensenke verschwand und nur noch der Kopf sichtbar war. Der Mann trug einen schwarzen Schlapphut und einen schwarzen Umhang. Er näherte sich sehr langsam. Als er die Bodensenke hinter sich hatte, konnte Lorenz seinen Schritt hören: es war der Professor. Sie gaben sich die Hand, Lorenz klinkte den Karabinerhaken des
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