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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun
Autoren: Sanbine Czerny
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zu verwenden.
    Bei nicht eindeutig objektiv messbaren Inhalten dagegen, beispielsweise beim Verfassen von Texten, beim Vortrag eines Referats, in künstlerischen und kreativen Bereichen oder beim Erforschen von naturwissenschaftlichen Inhalten — also immer da, wo nicht ein eindeutiges, überall gleich gültiges Ergebnis vorliegt —, ist eine Leistungsbeurteilung äußerst fragwürdig und damit insbesondere dann nicht sinnvoll, wenn daraus allgemeingültige Urteile abgeleitet werden. Denn eine Beurteilung hängt hier stark von der subjektiven Einschätzung des Beurteilers ab. Die derzeitig gängige Praxis, über das Erstellen von Kriterien eine scheinbare Objektivität zu erzeugen, ist verantwortlich dafür, dass Kinder nicht lernen, sich auf sich selbst auszurichten und ihre Persönlichkeit durch eigene Ansichten und Haltungen auszubilden und zu stärken. Sie werden stattdessen darin geschult, sich fremd auszurichten, um die für ihr Weiterkommen notwendige Beurteilung zu erhalten.
    Ã„hnlich ist es bei all den Fähigkeiten, die sich erst über Jahre hinweg entfalten oder durch die Persönlichkeit des Kindes unterschiedlichen Ausdruck erhalten. Statt hier einen organischen Lernprozess zu ermöglichen, wird das Kind durch die gängige Beurteilungspraxis ständig aus seiner Entwicklung gerissen, um die vorgegebenen Anforderungen zu erfüllen. Das wäre, als ob wir Kleinkinder bewusst darauf trainierten, schon mit zehn Monaten laufen zu können, nur weil diese Kriterien für eine gute Beurteilung gesetzt würden.

    Bei solcher Art Bewertung bleiben Kreativität, Eigensinn, Vielfalt, Entwicklung und noch viele andere wertvolle Eigenschaften auf der Strecke. Ein eindrucksvolles Beispiel, das diesen fatalen Verlust durch die Beurteilungspraxis schon im frühestens Kindesalter aufzeigt, ist die folgende Aufgabenstellung zum Test der Schulreife:
    â€žWenn sich Eltern, Lehrer und Erzieherinnen nicht sicher sind, ob ein Kind schulfähig ist, wird nach Beurteilungskriterien der kognitiven Schulreife gesucht. Im Bereich der Formerfassung und Formwiedergabe soll das Kind unter anderem diese Figur wiedergeben:

    Die folgenden Lösungen dreier Kinder lassen erkennen, wer diese Aufgabe richtig gelöst hat und damit schulfähig ist.
    Kind 1
    Kind 2
    Kind 3
    Fragt man Kinder jedoch nach den Gründen für ihre Lösungen, erklärt uns Kind 1, ‚… das ein E doch kein so komisches Schwänzchen da hinten hat’, und Kind 3 ‚… das der Besen doch viel besser kehrt, wenn er mehr Borsten hat.’” 1 Bei dieser Art der Aufgabenstellung führen weder die analytisch-präzise Denkweise eines Kindes noch die kreativ-schöpferische eines anderen zum Erfolg. „Wiederholen sich diese Erfahrungen, stellen Kinder ihre (…) Denkstrategien in Frage und speichern das Lernerlebnis als Versagen ab.” 2 Wir trainieren so also den Kindern ihre Offenheit ab, viele verschiedene Informationen
gleichzeitig aufzunehmen, eigene Wege zu gehen und Kreativität auszubilden. So bleiben sie auf ausgetrampelten Pfaden.
    Jugendliche und Erwachsene haben häufig genügend solcher Tests gemacht, um zu wissen, dass Individualität nichts bringt: Sie sind dadurch oft schon entsprechend sozialisiert und erlauben sich kein freies Denken mehr. Aber dies hemmt den Fortschritt für uns alle! Eine Studie von Wissenschaftssoziologen, die verschiedene Forschungslabors besuchten, zeigte, dass diejenigen Wissenschaftler erfolgreich waren, die nicht immer nur stur in einmal festgelegten Bahnen weiterarbeiteten, sondern die an Unvorhergesehenem und Überraschendem interessiert waren, sich davon leiten ließen und neue Wege gingen. 3 Um die Offenheit unserer Kinder zu erhalten, müssen wir von eingrenzender Beurteilung abkommen und das freie Denken, das Visionäre in ihnen bewahren und zulassen.
    Weit sinnvoller als fokussierte, zielvorgebende Bewertungen sind individuelle Rückmeldungen des Lehrers, die den Schüler und seinen Lernprozess in seiner Gesamtheit vorurteilsfrei wahrnehmen und beachten. Natürlich sind Rückmeldungen immer subjektiv, sie dürfen es auch sein. Gerade aus der Interaktion, zum Beispiel bei der Besprechung geschriebener Texte, beim Austausch nach einem gehaltenen Referat oder bei der Zusammenarbeit in einer Projektgruppe, ergeben sich für den Schüler hilfreiche Impulse, die ihm auf seinem
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