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Was vom Tode übrig bleibt

Was vom Tode übrig bleibt

Titel: Was vom Tode übrig bleibt
Autoren: P Anders
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erfolgt die Ankunft der Insekten daher im gleichen Tempo. Kälte bremst, Hitze beschleunigt das Ganze, so, wie man eben auch im Sommer öfter den Müll rausbringen muss. An heißen Tagen finden die ersten weiblichen Schmeißfliegen einen Leichnam schon nach wenigen Minuten.
    Die weiblichen Schmeißfliegen sind nicht deshalb so schnell, weil sie vielleicht Hunger haben. Für sie haben Leichen eine andere Funktion: Sie legen dort Eier ab, über 1000 Stück, mindestens, wenn eine Fliege gut drauf ist, schafft sie auch 2000 . Die Larven der Schmeißfliege brauchen einen Organismus, der sich zersetzt. Normaler Hausmüll tut es im Grunde auch, aber totes Fleisch ist viel, viel besser geeignet. Und mit der Zeit ist immer mehr davon bei dem Toten zugänglich. Zuerst nutzt die Fliege die natürlichen Zugänge, Augen, Ohren, Nase, Mund und noch lieber frische Wunden, wie sie bei Unfällen oder Gewaltverbrechen entstehen. Und später dann die Stellen, die ihr der Zersetzungsprozess so nach und nach an Eingängen zur Verfügung stellt.
    Diese Vorgänge laufen immer gleich ab, unerbittlich wie Naturgesetze, und genau deshalb sind sie nicht nur eklig, sondern sie können auch sehr nützlich sein. Man kann dadurch nämlich in der Kriminologie Rückschlüsse ziehen: Wenn man bei einer Leiche nicht weiß, wie lange sie am Fundort liegt, kann man aufgrund der Größe der Fliegenmaden, ihrer Verpuppungsstufe und Entwicklung zurückrechnen, wie viel Zeit seit dem Tod verstrichen sein muss. Ein ganzer Kriminologenzweig, die forensische Insektenkunde, hat sich darauf spezialisiert, die Reihenfolge festzulegen, welche Fliege und welcher Käfer wann bei welcher Leiche eintrifft. Die Fleischfliegen etwa kommen erst kurze Zeit nach den Schmeißfliegen, legen aber bereits lebende Larven.
    Inzwischen hat die Verfaulung langsam die Unterseite des Körpers zerlegt. Das Prinzip ist so ähnlich, als hätte man beim Gemüsehändler eine große Papiertüte mit Tomaten gekauft und unterwegs stellt man fest, dass ein oder zwei davon matschig sind und die Tüte durchweichen, bis sie irgendwann reißt. So ist das auch mit dem Leichnam, irgendwann weicht er unten durch, es ist ja auch sehr viel Flüssigkeit drin. Zu 70 Prozent besteht der Mensch nun mal aus Wasser. Und das drückt auf die immer maroder werdende Hautfläche, die den Körper zunächst noch nach unten abdichtet.
    Ab dem Moment, in dem die Flüssigkeit unten austritt, greift für den Tatortreiniger wieder mehr die Mechanik ins Geschehen ein. Die reinigungsrelevante Frage ist: Wie saugfähig ist der Untergrund unter der Leiche? Oder wie gut dichtet er ab? Eine Badewanne etwa ist eine saubere Sache, da bleibt alles beisammen. Ein Teppichboden hingegen saugt gut auf und gibt alles nach unten weiter. Unter dem Teppichboden endet die Wohnung meistens nicht, dann kommt vielleicht das Parkett, das auch gut saugt. Oder der Estrich. Oder beides. Und damit sickern alle Geruchsstoffe, die so zuverlässig für den Fliegenbesuch sorgen, mit in den Boden. Dazu kommen dann die ganz normalen chemischen Reaktionen, die eben stattfinden, wenn man einen nassen Teppich unter Luftabschluss vermodern lässt. Wie bei unserem Küchenlappenexperiment vom Anfang, allerdings nicht mit Seifenlauge.
    An der Qualität moderner Fenster und Türen liegt es, dass viele Nachbarn trotz des betäubend bestialischen Geruchs nicht auf die Vorgänge in der Nebenwohnung aufmerksam werden. Ich höre das oft im Gespräch auf dem Weg zur Wohnung oder wenn ich sie wieder verlasse. » Haben Sie denn nichts gerochen?«, frage ich manchmal, und eine der häufigsten Antworten, die ich dann bekomme, lautet: » Nein, eigentlich nicht.« Oder ich höre die Variante, bei der man annehmen kann, dass die Leiche näher an der Tür gelegen hat: » Irgendwann kamen halt unter dem Türspalt die Maden durch.«
    Etwa zu diesem Zeitpunkt taucht dann meist der Tatortreiniger auf. Die Leiche ist üblicherweise schon von den Bestatterkollegen abgeholt worden, geblieben sind die Folgen: der Geruch und das, was von der nassen Papiertüte auf der jeweiligen Unterlage kleben geblieben ist. Und riesige Schwärme von Fliegen sowie deren Madenklumpen auf dem Boden. Was nicht nur ziemlich eklig sein kann, sondern auch noch ziemlich hinderlich: Wie bei jedem üblen Geruch kann man nämlich dem Leichengeruch entgehen, indem man durch den Mund atmet und so die Geruchsrezeptoren in der Nase umgeht. Aber wie soll man durch den Mund atmen, wenn die Luft voller Fliegen
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