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Was sie nicht weiss

Was sie nicht weiss

Titel: Was sie nicht weiss
Autoren: Simone van Der Vlugt
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gespannt. Jetzt ist die Gelegenheit, alles zu erfahren. Was immer ihr das Wissen noch nützt …
    »Ich war als Erste da«, sagt Stefanie mit Stolz in der Stimme. »Mich hat Maaike schon viel früher gebraucht.«
    »Wann war das?«
    »Bei dem Autounfall, aber auch schon vorher.«
    »Dann trägst du also die Erinnerungen an den Unfall.«
    »Genau, Maaike weiß nur noch, dass er passiert ist und dass ihre Eltern dabei gestorben sind, sonst nichts.«
    »Ich stelle mir das furchtbar vor, stundenlang zusammen mit den toten Eltern im Auto eingeklemmt zu sein.«
    »Sie waren nicht gleich tot«, sagt Stefanie ernst. »Sie haben noch was zu mir gesagt, aber ich hab keine Antwort gegeben. Da dachten sie, ich bin tot.«
    »Und warum hast du nicht geantwortet? Hattest du so schlimme Schmerzen?«
    »Ich wollte nicht mit ihnen reden. Sie sollten still sein, für immer!« Der letzte Satz klingt so hart, dass Lois zusammenzuckt.
    »Das verstehe ich nicht«, sagt sie.
    »Nein? Wenn du bei uns gewohnt und in meinem Zimmer geschlafen hättest, würdest du wissen, warum.«
    Schlagartig begreift Lois den Zusammenhang. »Lieber Himmel, das kann doch nicht wahr sein«, stammelt sie.
    »Es hat angefangen, als ich sieben war. Ab und zu ist er nachts in mein Zimmer gekommen. Dann musste ich an die Wand rutschen, damit er sich zu mir legen konnte.« Stefanie schweigt und wendet den Blick ab. »Ich hab’s meiner Mutter erzählt, aber die wollte mir nicht glauben. Vater tut so was nicht, hat sie gesagt, und ich lüge, weil ich mich wichtig machen will.«
    Gern würde Lois jetzt Stefanies Hand nehmen, wäre da nicht die Fessel.
    »Wie schrecklich für dich«, sagt sie leise. »Es tut mir unendlich leid, dass du so was erleben musstest.«
    »Es wurde immer schlimmer«, fährt Stefanie tonlos fort. »Irgendwann kam er jede Nacht.«
    »Konntest du denn mit keinem Menschen darüber reden?«
    »Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich es jemandem sagen sollen, aber ich hab mich nicht getraut. Wo doch nicht mal meine Mutter mir geglaubt hat.«
    Stefanie richtet den Blick auf den Teppich und zupft an den Fasern herum.
    »Verstehe«, sagt Lois. »Und als der Unfall passierte, hat dich das noch mehr verstört.«
    Unvermittelt sieht Stefanie sie an. »Nein, das war ein großes Glück. Es ist genauso gelaufen, wie ich wollte. Wenn ich dabei gestorben wäre, hätte ich Pech gehabt, aber ich hab überlebt. Und meine Eltern waren tot, mausetot.«
    Ihr Tonfall ist so triumphierend, dass es Lois kalt über den Rücken läuft.
    »Alle haben geglaubt, der Unfall wär zufällig passiert«, fährt Stefanie mit einem Lächeln fort. »Die Polizei hat mich deswegen ausgefragt, und ich hab gesagt, ich weiß nichts, weil ich auf dem Rücksitz eine Mädchenzeitschrift gelesen hab. Aber das hat nicht gestimmt.«
    »Und wie war es wirklich?«, fragt Lois leise.
    »In einer Kurve hab ich meinem Vater von hinten die Augen zugehalten. Er hat gebrüllt und nach mir geschlagen. Dazu musste er das Steuer mit einer Hand loslassen, und da sind wir an den Baum geknallt.« Sie kichert, so als hätte sie einen harmlosen Streich gebeichtet.
    »Du selber hast also den Unfall verursacht …«
    »Danach bin ich zu Oma und Opa gezogen«, erzählt Stefanie weiter, ohne Lois’ Fassungslosigkeit zur Kenntnis zu nehmen. »Dort hat es mir auch nicht besonders gefallen, aber besser als bei meinen Eltern war es auf jeden Fall. Mit der Zeit ging es sogar ganz gut. Bis das andere passiert ist.«
    »Die Vergewaltigung?« Mehr als ein Flüstern bringt Lois nicht zustande, noch ganz unter dem Schock der grausigen Wahrheit.
    »Ja, die Vergewaltigung«, bestätigt Stefanie. »Und dann kam Tamara.«

52
    Nach diesen Worten herrscht minutenlang Stille. Lois schwankt zwischen Entsetzen und Mitleid. Wie viel Schreckliches muss man erfahren, um wie Maaike zu werden? Was kann man ertragen, bevor man zerbricht und eine Rettungsleine sucht und in der Krankheit findet?
    Doch in ihr Mitgefühl mischt sich Angst. Sie weiß nicht, wie viele Persönlichkeiten Maaike hat – keiner der beiden, die sie bis jetzt kennt, kann sie trauen. Die Hoffnung, Stefanie auf ihre Seite ziehen zu können, hat sich zerschlagen.
    Andererseits hat Stefanie ihr das alles nicht ohne Grund erzählt, sondern weil sie Verständnis sucht. Wie sie da vor dem Bett sitzt, mit hängenden Schultern, das Haar ins Gesicht fallend – so muss Maaike als Kind ausgesehen haben, denkt Lois. Und dieser Gedanke hilft ihr, das Wesentliche zu erfassen:
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