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Warum unsere Kinder Tyrannen werden

Titel: Warum unsere Kinder Tyrannen werden
Autoren: Michael Winterhoff
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Kind krabbelt und läuft, untersucht es alles in seinem Umfeld auf Funktionen hin, etwa durch Ertasten, Befühlen oder Belecken. Ein Stuhl beispielsweise wird zunächst als zum Schieben geeignet erkannt, danach als Klettergerät. Die Funktion als Sitzmöbel wird von einem Kleinkind erst sehr spät wahrgenommen.
    Auch die Bezugspersonen um das Kind herum werden entsprechend untersucht. Dabei unterliegt das Kind in der
frühkindlich-narzisstischen Phase vom zehnten bis zum sechzehnten Lebensmonat der Vorstellung, es könne alles und jeden steuern und bestimmen, genieße also absolute Autonomie.
    Bis zum dritten Lebensjahr wird dann in weiteren Schritten die Entdeckung gemacht, dass sowohl Kind als auch Erwachsener eigenständige Personen sind. Das Kind kann nun auch erkennen, dass ein Erwachsener größer, stärker und mächtiger ist. Von diesem Zeitpunkt an reagiert das Kleinkind in Konflikten auf den Erwachsenen, klassisch ausgedrückt: »es hört«. Mit Abschluss dieser Phase ist die Kindergartenreife erlangt, und das Kind reagiert auf pädagogische Interventionen des Erwachsenen.
    Die Situation, wie sie sich mir in meiner täglichen Arbeit mittlerweile darstellt, zeigt, dass wir auf dem besten Wege sind, immer weniger Kinder hervorzubringen, die eine kindgerechte Entwicklung durchlaufen können. Zusätzlich muss ich feststellen, dass immer weniger Kinder in ausreichendem Maße psychische Funktionen gebildet haben. Die Folge: In den letzten 15 Jahren lässt sich eine enorme Zunahme an Störfeldern im Kinder- und Jugendalter feststellen, die Auffälligkeiten, mit denen Kinder mir vorgestellt werden, könnten kaum vielfältiger sein.
    So haben wir etwa diverse Schwierigkeiten im motorischen Bereich. Es können keine koordinierten Bewegungen ausgeführt werden, besonders die feinmotorischen Bewegungen, wie sie etwa für das Schreiben unerlässlich sind, sind oft vollkommen unterentwickelt. Um eine Vorstellung vom Ausmaß dieser Störung zu bekommen, muss man sich nur vor Augen halten, dass vor 15 Jahren die Störung der Motorik im Kleinkindesalter etwa bei 20 Prozent der Kinder zu sehen war. Heute ist die Schallmauer von 50 Prozent längst durchbrochen, Tendenz steigend.

    Das führt in der Folge zu absurd erscheinenden Auswüchsen. So ist mir ein Kindergarten bekannt, der bis vor einigen Jahren mit den Kindern gerne einen Ausflug zum städtischen Botanischen Garten machte. Dieser Ausflug könne, so teilte mir der Leiter des Kindergartens mit, seit einiger Zeit nicht mehr angeboten werden, weil der Großteil der Kinder nicht mehr in der Lage sei, die Strecke zwischen Kindergarten und Botanischem Garten von etwa einem Kilometer Länge zu bewältigen. Die Kinder klagten dann über Beinschmerzen, es sei ihnen also nicht mehr zuzumuten. Solche Nachrichten sind als absolut alarmierend einzustufen, und zwar nicht nur die motorischen Störungen der Kinder betreffend, sondern auch hinsichtlich der Selbstverständlichkeit, mit der dieser Vorgang vom Personal des Kindergartens als offensichtlich normal hingenommen wird.
    Weiterhin sind enorme Defizite im Bereich der Wahrnehmung zu beobachten. Reize des Gehirns, die durch hören, sehen oder fühlen entstanden sind, können dabei nicht in andere Bereiche des Gehirns umgesetzt werden, wie es etwa nötig wäre, um ein von einer Tafel abgelesenes Wort anschließend mit der entsprechenden Feinmotorik schriftlich in ein Heft zu übertragen.
    Auch die Störungen im Bereich der sprachlichen Entwicklung sind enorm. So sind Kinder im Alter von fünf Jahren heute in hohem Maße auf einer Sprachstufe stehengeblieben, die es ihnen kaum erlaubt, elementare Bedürfnisse verständlich zu artikulieren. Grammatikalische Besonderheiten scheinen weitgehend unbekannt, Buchstaben werden falsch ausgesprochen, das Hervorbringen vollständiger Sätze ist zur Seltenheit geworden. Dazu kommen Störungen wie Lispeln und Stottern, die die Kinder in ihrem sozialen Umfeld der Gefahr einer Isolation aussetzen. Die Sprachstörung des einen Kindes und die Defizite im Sozialverhalten bei anderen
können hier bisweilen in unseliger Art und Weise aufeinandertreffen. Hänseleien, Ausgrenzung, körperliche Gewalt und weitergehende psychische Schädigungen können die Folge sein.
    Während solche sprachlichen Defizite früher in meiner Praxis zu den Ausnahmen gehörten, sind sie
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