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Warum aendert sich alles

Titel: Warum aendert sich alles
Autoren: Reinhard Brandt
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die Aufmerksamkeit und die Kenntnisse dieses einzigen Hörers. Ein Sklave korrigierte ihn: »Er blieb, großer Dichter, hier sitzen, weil er taub ist. Er hat weder die Tischglocke noch Euern Gesang gehört!«
    Eine Theateraufführung in einem der vielen Theater in London um 1750. Plötzlich rief jemand in den Zuschauerraumhinein: »Draußen wird einer aufgehängt!« Das Theater leerte sich sofort.
Bewegung
    Etwas in Bewegung zu bringen, ist ein Gütezeichen erster Klasse. Endlich geraten die Dinge in Bewegung. Linke und rechte Parteien nannten und nennen sich schlicht »Bewegung«; »Il movimento« war die Bewegung Mussolinis, »Non dobbiamo mai sederci« (Wir dürfen uns nie niedersetzen). »Sittlich ist es, daß Bewegung herrscht. Intensität [...] Wir leben erst aus unseren Katastrophen.« (L. Rubiner 1912) »Unter dem Bann von Heideggers existentialer Analytik der Zeit hat man meist übersehen, daß diese in einer entsprechenden Analytik des Raumes verankert ist, so wie beide wieder in einer existentialen Analytik der Bewegung gründen.« (P. Sloterdijk) Anregend absurd.
    Â»Berlin bewegen« (2004). Die beiden großen Bewegungszeitzeichen waren seit ihrer Erfindung das Auto und das Kino, beides nach der Bewegung benannt, das Auto: (auto) mobile , und das Kino: kinema , dort die Bewegung des menschlichen Subjekts, hier die movies , die Bewegung seiner auserwählten Objekte. Selbst der Raum kommt in der Relativitätstheorie nicht mehr zur Ruhe, sondern hat die Zeit in sich aufgenommen. In der Politik war einst die Bewegung verpönt, sie wurde als gefährlich und zerstörerisch eingeschätzt, movere , mobile , Mob. Die positive Bewertung stammt aus der Aufklärung, in der z. B. orientalische Regierungen dafür kritisiert werden, daß sie sich nicht verändern – in der Antike und im Mittelalter wäre dies ein großes Lob gewesen. Endgültig gerät alles, fast alles, in der Romantik in Bewegung.
Sich bewegen
    Im geöffneten Fenster des Nachbarhauses steht eine Zimmerpalme. Es weht ein leichter Wind. Die Blätter der Pflanze bewegen sich, manchmal wiegend, plötzlich in einem heftigen, dann abflauenden Wirbel. Ich glaube zu sehen, wie der Windstoß die Zimmerpalme erfaßt und die Blätter in die kreisende Bewegung setzt. Oder bewegen sich die Blätter von selbst? Nicht der Wind, sondern die Pflanze selbst setzt das Schauspiel in Gang; sie zuckt nervös auf, sie beruhigt sich plötzlich, steht still und kehrt dann langsam zu dem Hin- und Herwiegen ihrer Blätter zurück. Sie hält wieder ein, nachdenklich, immer noch, und jetzt beginnt sie fast theatralisch wieder die tanzende Bewegung.
    Aber dann hört die Narretei auf, ich sehe wieder, wie der Wind die Blätter bewegt.
Schön häßlich
    In Kreta gab es schon vor den Zeiten Homers Schönheitswettbewerbe; im Mittelalter folgten nördlich der monströsen, kältestarrenden Alpen Wettbewerbe der Häßlichkeit, fortgesetzt in London im 18.Jahrhundert, getrennt für Männer und Frauen; dort erschien auch die erste Monographie über das Häßliche von einem gewissen Hay, William Hay, selbst einschlägig verwachsen und formlos. Es ist nicht zu bezweifeln: Bei beiden Schaustellungen würden wir Postmodernen und Postmetaphysiker nicht anders als die Zeitgenossen entscheiden, hier die Schönen, dort die Häßlichen, und unter ihnen die ungefähr gleiche Rangfolge. Ein Unterschied bestünde für die Mitteleuropäer: Sie würden auf einer Zeitreise ins Mittelalter die Häßlichen nicht öffentlich verhöhnen und erniedrigen; eben das gehörte jedoch zu den Belustigungen der Wettbewerbe nördlich der Alpen. Vielleicht gibt es deswegen keine öffentlichen Wettbewerbe der Häßlichen mehr, sondern nur das klamme, heimliche Mobbing.
    So finden wir einen ästhetischen Gemeinsinn im Zentrum aller Schönheits- und Häßlichkeitsurteile, der Beurteilung des Menschen, von Nofretete bis heute, eine soziale Einigung ohne Sprache? Dieser übergreifende Konsens wird sogar über die Beurteilung der Menschen hinausgehen und Tiere und Landschaften und Geräte und Bauten umfassen. Im Moralischen ist der Konsens prekärer, aber immerhin: zu allen Zeiten und in allen Völkern wird Großmut hoch geschätzt, das Mittel mag ruhig eine harmlose Lüge sein. Das Schäbig- Kleinliche wird
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