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Warte auf das letzte Jahr

Warte auf das letzte Jahr

Titel: Warte auf das letzte Jahr
Autoren: Philip K. Dick
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sich den Namen, entdeckte den richtigen Knopf unter den zahllosen anderen auf der großen Messingplatte und drückte ihn lange und energisch in die Vertiefung, wie es Gino Molinari wohl auch gemacht hätte.
    Schließlich drang eine geisterhafte Stimme aus dem Lautsprecher, und ein winziges Bild erschien auf dem Monitor, der in der Wand über den Klingeln eingebaut war. »Ja? Wer ist da?« Das absurd kleine Bild machte es unmöglich, die Gesichtszüge des Mädchens zu erkennen; er konnte absolut nichts über ihr Aussehen sagen. Ihre Stimme jedenfalls klang vollkehlig und, trotz der nervösen Vorsicht eines ungebundenen Mädchens, das allein lebte, angenehm warm.
    »Gino Molinari hat mich gebeten, Sie aufzusuchen«, erklärte Eric und schob die Verantwortung auf den Fels, von dem alle abhängig waren auf der kollektiven Reise durch das Leben.
    »Oh!« Sie klang verwirrt. » Mich aufzusuchen? Sind Sie sicher, daß ich die betreffende Person bin? Ich habe ihn nur einmal getroffen und auch das nur durch Zufall.«
    »Darf ich für einen Augenblick hineinkommen, Miss Garabaldi?« fragte Eric.
    »Garabaldi ist mein alter Name«, erklärte das Mädchen. »Der Name, unter dem ich beim Fernsehen arbeite, lautet Garry. Patricia Garry.«
    »Lassen Sie mich nur für einen Moment hinein«, sagte Eric. »Bitte.« Er wartete.
    Die Tür summte; er stieß sie auf und betrat das Foyer. Er erreichte den Aufzug, fuhr hinauf in den fünfzehnten Stock und stand einen Moment später vor ihrer Tür und wollte gerade anklopfen, als er bemerkte, daß sie bereits einladend offen war.
    Bekleidet mit einer geblümten Schürze, das lange schwarze Haar auf ihrem Rücken zu zwei Zöpfen geflochten, kam ihm Patricia Garry entgegen und lächelte ihn an; sie besaß ein scharf geschnittenes Gesicht, das sich zu einem makellosen Kinn verjüngte, und ihre Lippen waren so dunkel, daß sie fast schwarz wirkten. Jede Einzelheit ihres Antlitzes war so sorgfältig und präzise geformt, daß es wie ein neuer Versuch für die Perfektionierung der menschlichen Symmetrie und Balance wirkte. Er verstand nun, warum sie zum Fernsehen gegangen war; derartige Gesichtszüge, selbst wenn sie nur in der geheuchelten Begeisterung bei einem gestellten Biergelage am kalifornischen Meeresstrand erglühten, würden jeden Zuschauer faszinieren. Sie war nicht nur schön; sie war auffallend und verschwenderisch einzigartig, und als er sie ansah, wußte er, daß sie eine lange und steile Karriere vor sich hatte, falls der Krieg es nicht verhinderte.
    »Hallo«, sagte sie freundlich. »Wer sind Sie?«
    »Eric Sweetscent. Ich gehöre zum medizinischen Stab des Generalsekretärs.« Oder hatte dazugehört, dachte er. Jedenfalls noch zu Beginn dieses Tages. »Können wir zusammen eine Tasse Kaffee trinken und uns unterhalten? Es würde mir sehr viel bedeuten.«
    »Was für eine seltsame Begrüßung«, bemerkte Patricia Garry. »Aber warum nicht?« Sie drehte sich herum, so daß sich ihre weite mexikanische Bluse bauschte, während sie durch den Flur schritt. Eric folgte ihr in die Küche. »Ich habe gerade das Wasser aufgesetzt. Warum hat Mr. Molinari Ihnen gesagt, Sie möchten mich aufsuchen? Aus irgendeinem besonderen Grund?«
    Konnte ein Mädchen so aussehen und trotzdem nicht wissen, daß sie allein schon einen besonderen Grund darstellte? »Nun«, erwiderte er, »ich lebe in Kalifornien, in San Diego.« Und ich glaube, dachte er, ich arbeite in Tijuana. Endlich wieder. »Ich bin Transplantchirurg, Miss Garry. Oder Pat. Ist es in Ordnung, wenn ich Pat zu Ihnen sage?« Er setzte sich an den niedrigen Tisch, faltete die Hände und stützte sich mit den Ellbogen auf die harte, unregelmäßige Tischplatte aus dem Holz des Mammutbaums.
    »Wenn Sie ein Transplantchirurg sind«, fragte Patricia Garry, während sie die Tassen aus dem Hängeschrank über der Spüle nahm, »warum befinden Sie sich dann nicht auf den Militärsatelliten oder in den Frontkrankenhäusern?«
    Er spürte, wie die Welt um ihn herum zusammenbrach. »Ich weiß es nicht«, gestand er.
    »Sie wissen, daß Krieg herrscht.« Sie drehte ihm den Rücken zu und fuhr fort: »Der Junge, zu dem ich eine Beziehung unterhielt, wurde verstümmelt, als eine Riegbombe seinen Kreuzer traf. Er befindet sich noch immer im Krankenhaus seines Stützpunktes.«
    »Was kann ich anderes dazu sagen«, entgegnete er, »als daß Sie den Finger auf die offene Wunde gelegt haben. Mein Leben ist anders verlaufen, als es eigentlich hätte sein
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