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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
Autoren: Tom Holt
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gottähnliche Distanz beschreiben kann. So müssen sich die Götter fühlen, wenn sie nach unten blicken und sterbliche Menschen sehen. Ich hatte schließlich als einziger überlebt, alle anderen auf der Welt waren gestorben. Ich empfand einfach keinen Kummer, die Ereignisse berührten mich nicht einmal, so wie ein Mensch sich nie betroffen fühlen kann, wenn er kochendes Wasser über einen Ameisenhügel gießt und damit einen ganzen Staat auslöscht, der vom Standpunkt der Ameisen möglicherweise so groß wie Athen oder Troja ist.
    Vielleicht bin ich damals noch zu jung gewesen, um Gefühle zu haben, oder stand einfach vollkommen fassungslos vor dem bloßen Ausmaß der Katastrophe. Aber das glaube ich eigentlich nicht. Denn in dem Garten hinter der Mauer habe ich später als erwachsener Mann dieselben Empfindungen gehabt, und das war eine genauso große Katastrophe wie die Pest, womöglich sogar noch größer.
    Da stand ich nun also beim Regentrog und hing diesen tiefsinnigen Gedanken nach, als ich auf einmal einen Mann in Rüstung die Straße entlang eilen sah. Er hatte sich einen wollenen Umhang ums Gesicht gewickelt, um nicht die verseuchte Luft atmen zu müssen. Ich hielt das für ziemlich albern, zumal ein Umhang keinen speziellen Zauber besitzt, der etwas gegen die Auswirkungen von Pest und Tod ausrichten kann, und für mich stellte dieser arme Tropf 51
    ein typisches Beispiel für die Dummheit aller Sterblichen dar. Als mich der Mann erblickte, fuhr er erschrocken zusammen.
    Natürlich fürchtet er sich beim Anblick eines Gottes, und ich muß ihn beruhigen, sagte ich mir und rief ihm deshalb laut zu: »Hab keine Angst, ich tu dir nichts!«
    »Ach, verzieh dich!« fluchte der Mann. »Du hast doch bestimmt die Pest, oder?«
    »Nein«, antwortete ich. »Ich bin zwar eine Weile daran erkrankt gewesen, aber der Gott hat mich geheilt. Für dich besteht keine Gefahr, ich stecke dich bestimmt nicht an.«
    Da er alles andere als überzeugt wirkte, beschrieb ich ihm die Symptome und wie ich wieder gesund geworden war, und seine Angst vor mir legte sich allmählich. Es stellte sich heraus, daß einer seiner Heereskameraden ebenfalls von der Pest befallen worden war und überlebt hatte, und deshalb wußte mein Gesprächspartner auch, daß ich die Wahrheit gesagt hatte. Er kam zu mir herüber und setzte sich auf den Rand des Trogs. Obwohl er den Umhang noch immer bis über beide Ohren gezogen hatte, konnte ich sein Gesicht sehen. Er war etwa Anfang zwanzig, hatte eine lange schmale Nase und rotblondes Haar, das an den Schläfen schütter wurde.
    »Wie heißt du?« fragte ich ihn.
    »Kallikrates«, antworte er. »Ich suche das Haus eines Mannes namens Euthydemos von Pallene, Sohn des Euxis’.«
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    »Das Haus ist dahinten, kurz vor der Abbiegung. Aber falls du Euthydemos selbst suchst, dann findest du ihn direkt hinter dir.« Denn selbstverständlich war Euthydemos der Name meines Großvaters, Euxis der seines Vaters, und unser Ort und Demos hieß Pallene.
    Kallikrates blickte sich um, konnte aber niemanden sehen. Dann entdeckte er den im Trog schwimmenden Körper und sprang erschrocken auf.
    »Um Himmels willen!« rief er. »Was soll das? Warum hältst du mich so zum Narren? Ich hätte fast einen Herzanfall gekriegt.«
    »Ehrlich, das da ist Euthydemos«, versicherte ich ihm mit ernster Stimme. »Ich muß das ja wohl wissen, schließlich bin ich sein Enkel Eupolis. Bis auf mich sind alle gestorben, die in unserem Haus lebten. Wie ich schon gesagt habe, hat mich nämlich der Gott geheilt.«
    Kallikrates starrte mich an, als hätte ich ihm gerade den Untergang Babylons mitgeteilt, und fragte mich nach einer kurzen Denkpause: »Stimmt das wirklich?«
    »Natürlich stimmt das. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du ja zum Haus gehen und selbst nachsehen. Aber das rate ich dir nicht, die sind nämlich alle an der Pest gestorben.«
    Er schwieg eine Weile und stierte auf die Knoten in den Lederriemen seiner Sandalen, als rechne er fest damit, daß jeden Moment Blumen daraus hervorsprössen. Dann wandte er mir das Gesicht zu und blickte mich ernst an.
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    »Ich heiße Eupolis«, sagte er schließlich. »Ich bin dein Vetter, der Sohn von Philodemos, dem älteren Bruder deiner Mutter. Mein Vater und ich sind im Krieg gewesen und gerade erst wieder heimgekehrt. Gleich nachdem man uns von der Pest erzählt hatte, ist mein Vater aufgebrochen, um nachzusehen, ob mit unserem Haus noch alles in Ordnung ist, und mich hat er losgeschickt,
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