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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
Autoren: Tom Holt
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beschäftigt hatte, flatterte herüber und hackte ein paarmal zögernd danach. Offenbar ist der Verlust von Fingern und Zehen und sogar von ganzen Händen und Füßen bei Überlebenden der Pest etwas durchaus Gewöhnliches.
    Damals wußte ich natürlich noch nichts davon, und darum jagte mir der abgebrochene Finger einen gehörigen Schrecken ein.
    Da stand ich nun also wieder mitten im Leben, fast gesund und schon recht munter. Ich wollte unbedingt die verdutzten Gesichter der anderen sehen, wenn ich einfach ins Haus platzen und ihnen von meiner Genesung berichten würde. Da ich in vielerlei Hinsicht ein durchaus boshaftes Kind war, hielt ich es für angebracht, meine Lieben zu überraschen. Also schlich ich mich zur Hintertür und ging auf Zehenspitzen ins Haus, wo ich meinen wie üblich nach dem Mittagessen schlafenden Großvater anzutreffen 48
    glaubte. Aber er war nicht da. Statt dessen sah ich meine Mutter kerzengerade im Stuhl vor ihrem Spinnrad sitzen, so tot wie Agamemnon. An ihrem Zustand und dem grauenhaften Gesichtsausdruck konnte ich sofort erkennen, daß sie an der Pest gestorben war. Wie es ihrem Wesen entsprach, hatte sie bis zuletzt ihre Pflichten im Haushalt erfüllt. Folglich konnte Hermes den Totenrichtern die Nachricht überbringen, daß sie wie eine echte Frau gestorben war. Das war ganz meine Mutter.
    Unseren syrischen Hausdiener fand ich zusammen-gekrümmt in einer Ecke des Innenraums – er hatte sich die Sandalen ausgezogen und glatt die Lederriemen durch-gebissen –, während das libysche Mädchen in der Vorratskammer lag. Ihre Schmerzen waren offensichtlich so stark geworden, daß das arme Geschöpf sie nicht mehr ausgehalten hatte und sich mit dem scharfen Rasiermesser, mit dem sich meine Mutter Beine und Achselhöhlen zu rasieren pflegte, die eigene Kehle durchgeschnitten hatte.
    Von meinem Großvater entdeckte ich jedoch nirgendwo im Haus eine Spur. Ich hegte sogar allmählich die Hoffnung, daß er es irgendwie geschafft hatte zu überleben und vielleicht sogar losgegangen war, um Hilfe zu holen. Aber dann fand ich auch ihn, ein kleines Stück weiter die Straße hinunter, die vollkommen still und verlassen dalag – was schon damals ein völlig ungewöhnlicher Zustand für eine Straße in Athen war. Er schwamm in einem dieser Steintröge, die man zu Zeiten des Tyrannen Peisistratos zum Auffangen von Regenwasser aufgestellt hatte.
    Wahrscheinlich hatte er einen solch unerträglichen Durst empfunden, daß er in den Trog gesprungen und ertrunken 49
    war – für einen Mann seines Formats eine traurige Art zu sterben, schließlich hatte er an der Schlacht bei Platää teilgenommen, als die Athener zusammen mit den Spartanern König Xerxes’ Landheer schlugen und seinen großen Feldherrn Mardonios töteten.
    Es war ein ganz eigentümliches Gefühl, aus dem Stall herauszukommen und feststellen zu müssen, daß die ganze Familie mitsamt Hauspersonal gestorben war, zumal ich nichts davon mitbekommen hatte. Während der Krankheit hatte ich immer angenommen, der einzige Mensch in ganz Athen zu sein, der von der Pest befallen worden war, und daß die Welt außerhalb des Stalls, falls ich jemals wieder nach draußen gelangen sollte, noch annähernd die gleiche wie zu Beginn meiner Gefangenschaft sein müßte. Als ich so dastand und meinen im Regentrog treibenden Großvater betrachtete, empfand ich nur wenig oder gar keine Trauer oder Niedergeschlagenheit, und von diesem Tag an bin ich nie mehr in der Lage gewesen, die Chöre in den Tragödien besonders ernst zu nehmen. Sie wissen schon, was ich meine: Der Bote eilt mit der Nachricht von der schweren Katastrophe überhastet auf die Bühne, und prompt fängt der Chor zu jammern an und Aiai und Hottotoi und den ganzen anderen Kram zu singen, den man angeblich sagt, aber niemals tut, wenn man über eine Unglücksmeldung bestürzt ist, und ungefähr zwanzig Zeilen später haben sich dann alle wieder im Griff und behaupten, die Götter seien gerecht. Ich dagegen habe die Erfahrung gemacht, daß man auf jeden Fall mindestens einen Tag braucht, um eine Hiobsbotschaft richtig zu begreifen. Erst wenn die Leute kein Mitleid mehr haben und mir vorhalten, welch 50
    gefühlloser Rohling ich sei, breche ich wirklich zusammen.
    Na ja, so ist das eben. Auch damals, als ich vor dem Trog stand, in dem mein toter Großvater lag, verspürte ich keinen großen Drang, zu wehklagen oder mir die Haare zu raufen, sondern nahm nur eine Empfindung wahr, die ich am besten als
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