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Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht

Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht

Titel: Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
Autoren: Henning Mankell
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immer nachts geschlossen war, steht plötzlich offen. Und die Stute hat nicht gewiehert   …
    Die Stute hat nicht gewiehert, weil der alte Lövgren nicht seinen gewohnten Nachtspaziergang zum Stall gemacht hat, als sich die Prostata gemeldet und ihn aus dem warmen Bett gejagt hat   …
    Das ist doch alles Einbildung, sagt er zu sich selbst. Meine Augen sehen einfach nicht mehr richtig. Alles ist wie immer. Was soll denn eigentlich hier schon passieren? In dem kleinen Dorf Lenarp, gleich oberhalb des Kadesees, an der Straße zum schönen Krageholmsee, mitten im Herzen von Schonen? Hier |8| geschieht nichts. Die Zeit steht still in diesem kleinen Dorf, in dem das Leben wie ein Bach ohne Energie und Willen dahinfließt. Hier wohnen ein paar alte Bauern, die ihr Land an andere verkauft oder verpachtet haben. Hier wohnen wir und warten auf das Unausweichliche   …
    Wieder betrachtet er das Küchenfenster und denkt, daß weder Maria noch Johannes Lövgren vergessen würden, es zu schließen. Mit dem Alter geht eine schleichende Angst einher, es werden mehr und mehr Schlösser eingebaut, und niemand vergißt, ein Fenster zu schließen, bevor sich die Nacht herabsenkt. Alt zu werden bedeutet, sich zu ängstigen. Die Angst vor etwas Bedrohlichem, die man als Kind hatte, kehrt zurück, wenn man alt wird   …
    Ich kann mich anziehen und hinausgehen, denkt er. Mit dem eiskalten Wind im Gesicht durch den Garten humpeln, bis zu dem Zaun, der unsere Grundstücke voneinander trennt. Ich kann mich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß ich mir alles nur eingebildet habe.
    Aber er beschließt, stehenzubleiben. Bald wird Johannes aus dem Bett aufstehen, um Kaffee zu kochen. Erst macht er das Licht auf der Toilette an, dann die Lampe in der Küche. Alles wird so sein wie immer   …
    Er steht am Fenster und merkt, daß er friert. Es ist die Alterskälte, die kriechend herankommt, selbst in den wärmsten Räumen.
    Er denkt an Maria und Johannes. Mit ihnen waren wir auch verheiratet, denkt er, als Nachbarn und Bauern. Wir haben einander geholfen, die Mühen und die schlechten Jahre geteilt.
    Aber wir haben auch die guten Zeiten miteinander genossen. Zusammen haben wir Mittsommer und Weihnachten gefeiert. Unsere Kinder sind zwischen den beiden Höfen hin- und hergelaufen, als gehörten sie zu beiden. Und jetzt teilen wir die lange, ausgedehnte Zeit des Alters   …
    Ohne zu wissen warum, öffnet er das Fenster, vorsichtig, um die schlafende Hanna nicht zu wecken. Er hält den Fensterhaken |9| gut fest, damit der kalte, böige Wind ihm das Fenster nicht aus der Hand reißt. Aber es ist völlig windstill, und jetzt erinnert er sich auch, daß der Wetterbericht im Radio nichts von einem heranziehenden Unwetter über der schonischen Ebene gemeldet hat.
    Der Sternenhimmel ist klar, und es ist sehr kalt. Er will das Fenster gerade wieder schließen, als er glaubt, ein Geräusch zu hören. Er horcht und dreht das linke Ohr nach draußen. Es ist sein gutes Ohr, im Gegensatz zum rechten, das all die Zeit auf engen und lärmenden Traktoren nicht unbeschadet überstanden hat. Ein Vogel, fährt es ihm durch den Kopf. Ein schreiender Nachtvogel.
    Dann bekommt er Angst. Die Angst kommt aus dem Nichts und ergreift Besitz von ihm.
    Es klingt wie der Schrei eines Menschen. Verzweifelt, um zu anderen Menschen durchzudringen.
    Eine Stimme, die weiß, daß sie durch dicke Steinwände dringen muß, um die Aufmerksamkeit ihrer Nachbarn zu wecken   …
    Ich bilde mir das nur ein, denkt er. Da ist niemand, der schreit. Wer sollte das denn auch sein?
    Er schließt das Fenster mit einem Ruck, so daß ein Blumentopf scheppert und Hanna wach wird.
    »Was machst du?« fragt sie, und er hört ihr an, daß sie verstört ist.
    Als er antworten will, ist er sich seiner Sache plötzlich sicher.
    Seine Angst ist berechtigt.
    »Die Stute wiehert nicht«, sagt er und setzt sich auf die Bettkante. »Und das Küchenfenster bei Lövgrens steht offen. Und ich glaube, jemand schreit.«
    Sie setzt sich im Bett auf.
    »Was sagst du da?«
    Er will nicht antworten, aber jetzt ist er sich sicher, daß es kein Vogel war, den er gehört hat.
    |10| »Johannes oder Maria«, sagt er. »Einer von ihnen ruft um Hilfe!«
    Sie steigt aus dem Bett und geht zum Fenster. Groß und breit steht sie dort in ihrem Nachthemd und schaut in die Dunkelheit hinaus.
    »Das Küchenfenster steht nicht offen«, flüstert sie. »Es ist eingeschlagen worden.«
    Er geht zu ihr und friert jetzt so,
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