Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Walburgisöl - Oberbayern-Krimi

Walburgisöl - Oberbayern-Krimi

Titel: Walburgisöl - Oberbayern-Krimi
Autoren: emons Verlag
Vom Netzwerk:
sondern ging Schritt für Schritt weiter auf den Altersheimtrakt zu, der etwas tiefer lag. Morgenstern wagte sich nicht hinaus. Aber hatte er nicht erst vor wenigen Tagen einen Verdächtigen entkommen lassen? Er rang mit sich und nahm dann all seinen Mut zusammen. Es war wohl so etwas wie Berufsehre, was ihn dazu zwang, sich ebenfalls aus dem Fenster zu wuchten, sich mit größter Vorsicht bis zur Dachrinne hinabzuhangeln und dann, sich mit beiden Händen an den Dachziegeln abstützend, vorsichtig und ohne jede Eleganz die Verfolgung aufzunehmen.
    Bei einem Blick zurück sah er, dass auf der Spitalbrücke bereits ein Autofahrer angehalten und die Warnblinkanlage eingeschaltet hatte. Weitere Autos stoppten. Die Fahrer stiegen aus und starrten zu Jonas und ihm nach oben. Morgenstern spürte, wie sich seine Waden verkrampften, seine Oberschenkel wurden hart wie Stein und begannen unkontrollierbar zu zittern, und nur mit äußerster Anstrengung schaffte er es, sich in der Dachrinne umzudrehen und mit dem Rücken an das steile, vom Nebel feuchte Satteldach zu lehnen. Er würde keinen Schritt mehr vor oder zurück zustande bringen, da war er sich nun sicher.
    »Verdammt!«, sagte er leise, dann rief er, nach kurzer Bedenkzeit, vernehmlicher: »Hilfe!«
    Drinnen, so glaubte er zumindest, hörte er laute Schläge gegen die Brandschutztür. Er hatte vergessen, sie aufzusperren, und nun stand Spargel vor dem Eingang und hatte keine Chance, in den Speicher zu kommen.
    Jonas, der Kletterer, war inzwischen fast schon am Ende des Kirchendachs angelangt. Morgenstern sah, wie er sich vorbeugte, um seinen weiteren Weg zu wählen. Die Regenrinne endete in einem Fallrohr, das sich jedoch von der Traufe erst einen halben Meter nach innen zur Kirchenwand bog. Er vergaß für einen Augenblick seine grenzenlose Angst und hielt den Atem an. Ganz langsam ging Jonas in die Knie, hielt sich dann mit beiden Händen an der Regenrinne fest, ließ sich nach unten gleiten und hing frei schwebend parallel zur Mauer der Spitalkirche.
    Der ist völlig verrückt, dachte Morgenstern unwillkürlich. Der ist doch nicht Spiderman!
    Jonas war offenbar anderer Meinung. Er begann, hin und her zu schwingen, um mit den Füßen das Fallrohr erreichen zu können, und er hatte es fast schon erreicht, als Morgenstern ein Geräusch hörte, das ihm durch Mark und Bein ging: ein grässliches Knirschen und Knarzen.
    »Die Dachrinne!«, schrie Morgenstern, ohne zu wissen, wen er überhaupt warnen wollte. Mit einem Ruck löste sich die Regenrinne aus ihren Verankerungshaken, erst aus dem einen, dann wie bei einem Dominospiel aus den nachfolgenden. Jedes Mal wenn sich einer der Ankerhaken vom Dachbalken löste, ertönte ein dumpfes »Plopp«, und Jonas Zinsmeister sank mitsamt der sich immer weiter nach unten knickenden Dachrinne in die Tiefe.
    Morgenstern wagte es nicht, sich nach vorne zu beugen und zu sehen, was mit dem jungen Mann geschehen würde. Es gab keinen Zweifel: Jonas würde auf den schmalen gepflasterten Streifen zwischen Kirche und Altmühl fallen. Zitternd presste Morgenstern sich gegen das Kirchendach und schloss die Augen. Er hörte einen kurzen Schrei, gefolgt vom Brechen von Zweigen und Ästen, dann einen dumpfen Aufprall. Danach war alles still.
    »Hilfe!«, rief Morgenstern jetzt, so laut er nur konnte. »Holt mich hier runter!« Er sah, dass die Menschen unten auf der Spitalbrücke gestikulierten.
    Ein Mann brüllte zu ihm herauf: »Halten Sie durch, die Feuerwehr kommt mit der Drehleiter. Nur noch ein paar Minuten!«
    Morgenstern wusste, dass das Eichstätter Feuerwehrhaus in unmittelbarer Nähe war, und wenig später hörte er bereits ein gellendes Martinshorn. Mit rasender Geschwindigkeit bog der Löschzug vom Residenzplatz auf die Spitalbrücke ein.
    Ganz großes Kino heute, dachte Morgenstern bitter und verfluchte sich dafür, dass er Jonas nicht einfach hatte entwischen lassen. Er, Morgenstern, hatte mit seinem Ehrgeiz eine Katastrophe ausgelöst – und sie war noch nicht zu Ende. Angstvoll blickte er auf die Dachrinne. Nur noch drei Halterungen neben ihm saßen fest, alle anderen waren ausgerissen.
    Es grenzte an ein Wunder, dass die Anker neben ihm gehalten hatten. Ein Wunder, dachte er, und mit einem Mal hatte er das sonderbare Gefühl, als könnte er durch die Hosentasche die winzige Glasampulle fühlen, die ihm die Äbtissin am Vormittag zugesteckt hatte. Morgenstern wandte den Blick von der Dachrinne ab und schaute in die andere
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher