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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
Autoren: Jodi Picoult
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in den Armen meiner Mutter, die mich unbeholfen hält. Und eins von meiner Mutter und meinem Vater auf einer häßlichen, grünen Couch, ich zwischen ihnen, mit Grübchen, eine Mischung aus ihnen beiden.
    Es ist so, als würde ich einen anderen Planeten besuchen. Als würde ich nach einem Hungerstreik auf ein Bankett gehen - es ist so viel, ich will nichts übersehen. Mir wird heiß im Gesicht, als wäre ich geohrfeigt worden. »Wieso hast du die vor mir versteckt?«
    Er nimmt mir ein Foto aus der Hand und starrt lange darauf, als hätte er vergessen, daß Eric und ich im Zimmer sind. »Ich habe sie nicht versteckt, weil ich sie nicht anschauen wollte«, sagt er schließlich. »Ich habe sie versteckt, weil ich nichts anderes tun wollte, als sie anzuschauen.« Er legt das Hochzeitsfoto zurück in die Dose und stapelt die anderen darüber. »Du kannst sie haben«, sagt mein Vater zu mir. »Du kannst sie alle haben.«
    Er läßt uns in seinem halbdunklen Schlafzimmer allein. Eric berührt behutsam das oberste Foto, als könnte es zerbrechen. »Das«, sagt er leise, »möchte ich mit dir haben.«
    Diejenigen, die ich nicht finde, lassen mich nicht mehr los. Der Junge, der an einem frostigen Märztag von einer Zugbrücke in den Connecticut River gesprungen ist. Die Mutter aus North Convay, die spurlos verschwand, während das Essen noch auf dem Herd kochte und ein kleines Kind im Laufstall saß. Das Baby, das in Strafford auf dem Parkplatz der Post aus einem Auto gekidnappt wurde, als der Babysitter ein Paket aufgab. Manchmal stehen sie hinter mir, wenn ich mir die Zähne putze. Manchmal sind sie das letzte, was ich sehe, bevor ich einschlafe. Manchmal lassen sie mich nachts keine Ruhe finden.
    Heute abend herrscht dichter Nebel, aber Greta und ich haben hier in der Gegend schon so oft trainiert, daß wir das Gelände in- und auswendig kennen. Ich setze mich auf einen bemoosten Baumstamm, während Greta herumschnüffelt. Über mir hängt etwas an einem Ast, voll und rund und gelblich.
    Ich bin noch klein, und er hat gerade ein Zitronenbäumchen in unserem Garten gepflanzt. Ich tanze drum herum. Ich möchte Limonade machen, aber das Bäumchen trägt keine Früchte, weil es noch ein Baby ist. >Wie lange dauert es, bis es welche bekommt?< frage ich. >Ein Weilchen<, sagt er. Ich setze mich davor und schaue das Bäumchen an. >Dann warte ich solange.< Er kommt zu mir und nimmt meine Hand. >Komm, grilla<, sagt er. >Wenn wir hier so viel Geduld brauchen, machen wir uns lieber was zu essen.<
    Ich habe Träume, die mir so real vorkommen, daß ich das Gefühl habe, es sei wirklich passiert.
    Ich habe immer schon in New Hampshire gewohnt. Ein Zitronenbaum könnte das Klima hier gar nicht vertragen, das uns nicht erst zu Weihnachten Schnee beschert, sondern bereits Ende Oktober. Ich ziehe den gelblichen Ball herunter: ein zerbröckelnder Knödel aus Vogelfutter und Talg.
    Was bedeutet grilla?
    Ich denke noch am nächsten Morgen darüber nach, als ich Sophie zum Kindergarten gebracht habe, und um mein Versäumnis von gestern wiedergutzumachen, bleibe ich noch zehn Minuten länger und lasse mir von ihr die Malstaffelei, die Bauklötze und die Seifenblasenstation zeigen. Für heute vormittag habe ich eine Übung mit Greta vor, doch ich werde abgelenkt, als ich auf dem Boden meines Ford Expedition die Brieftasche meines Vaters liegen sehe. Sie muß ihm aus der Tasche gefallen sein, als er zuletzt mit dem Wagen beim Tanken war. Ich beschließe, beim Seniorenzentrum vorbeizufahren, um sie ihm zu bringen.
    Ich stelle den Wagen auf dem Parkplatz ab und öffne die Heckklappe. »Bleib«, sage ich zu Greta, die zweimal mit dem Schwanz schlägt. Sie muß den Platz mit
    Rettungsgerät, einer großen Kühlbox und verschiedenen Hundegeschirren und -leinen teilen.
    Plötzlich spüre ich ein Kribbeln am Handgelenk. Irgend etwas ist mir auf den Arm gekrochen. Mein Herzschlag beschleunigt sich rasant, und die Kehle schnürt sich mir zu, wie immer, wenn ich an eine Spinne oder Zecke oder irgendein anderes widerliches Krabbeltier denke. Ich schaffe es, mir die Jacke auszuziehen, in Schweiß gebadet, während ich mich frage, wie dicht die Spinne neben meinen Schuhen gelandet ist.
    Diese Phobie ist eigentlich unerklärlich. Ich muß auf der Suche nach Vermißten immer wieder auf steile Berge klettern. Ich habe schon bewaffnete Kriminelle überwältigt, aber steckt man mich in einen Raum mit einem noch so winzigen Spinnentier, falle ich fast in
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