Wächter des Mythos (German Edition)
Gabriel das Zeichen verwirrt, »das die Horizontalachse mit der Vertikalachse vereint. Es ist an der Zeit, Jesus vom Kreuz zu nehmen und ihm sein Ruhen in Frieden zu gönnen. Das Kreuz mit dem Schnittpunkt des Irdischen und Überirdischen kann dann endlich zu einem neuen Symbol werden, das den irdischen und himmlischen Frieden in einem neuen Dasein, in einem neuen Menschenreich vereint. Bunas diaz, Seniore.«
Benommen stolperte Gabriel aus dem Laden, lief ziellos weiter und warf hier und dort einen Blick auf die Speisekarten der Restaurants. Gabriel verspürte Hunger, nachdem ihm ein Kellner vergeblich seinen fangfrischen Fisch angepriesen hatte. Doch dann erlöste ihn das langersehnte Läuten der Kirchenglocken vom quälenden Gedanken ans Essen und vom Warten. Dafür musste er sich jetzt aber sehr beeilen, um noch rechtzeitig zur Messe zu kommen.
* * *
Der Bus schob sich das letzte Stück zur Altstadt durch den Verkehr, dann hielt er auf dem Parkplatz in der Nähe der Kathedrale. Die Glocken läuteten schon, als die Gruppe die steinernen Stufen hinaufeilte, vorbei an den Touristen, die ihrem Busbegleiter mit seinem roten Fähnchen folgten. Dann standen sie vor der imposanten Barockfassade der Kathedrale, die zwischen 1738 und 1750 neu geschaffen worden war.
Zahlreiche Menschen jedweder Altersgruppe und Nationalität drängten auf das frühgotische Ruhmesportal, den Pórtico de la Gloria zu, an der Mittelsäule mit dem Heiligen Jakobus vorbei in die Kathedrale hinein. Wie seit Jahrhunderten betraten viele Pilger mit der stillen Bitte um Erfüllung ihrer Anliegen das Gotteshaus. Ergriffen blieb Alina im Inneren der Kathedrale inmitten vorbeiströmender Menschen stehen. Auf stämmigen, sandfarbenen Säulen thronte das 90 Meter lange, weiße Längstonnengewölbe des Mittelschiffs. Seine steinernen Rundbögen ruhten auf schlicht wirkenden Säulenkapitellen, das Mauerwerk war von den Simsen und Säulenarkaden des Chorumgangs durchbrochenen. Diffuses Licht flutete geheimnisvoll durch die Fenster in das steinerne Kirchenschiff, und verlieh dem Raum eine unwirkliche Atmosphäre.
Die zahlreichen hereinströmenden Gläubigen hatten jedoch nur Augen für den prunkvollen Reichtum des barocken Hochaltars, mit seiner zentralen Jakobsstatue sowie den vielen Nebenaltären in den Seitenkapellen und für all das Gold, das Silber und den überreichen Figurenschmuck. Alina fühlte sich plötzlich verloren in dieser großen Menge gutgläubiger Schafe. Sahen all diese Gläubigen denn nicht, dass die Kirche mit diesem ganzen gloriosen Reichtum nur sich selbst und ihrer Macht huldigte?
»Nun kommen Sie schon, Alina.« Sandino zupfte sie am Ärmel. »Wenn Sie noch länger hier in der Menge herumstehen, müssen Sie den Tiraboleiros ja unweigerlich auffallen.«
Als Alina immer noch zögerte, zog Sandino sie einfach mit sich, vorbei an den Türen zu den zahlreichen Beichtstühlen, in denen sich die Sünder in verschieden Sprachen von ihrem Laster befreien konnten. Kaum hatten sie in einer Reihe Platz genommen, als die Zeremonie begann.
»Was ist mit den Tiraboleiros?«, fragte Alina Sandino leise.
»Offiziell bringen sie dem Bota-Fumeiro das Fliegen bei. Inoffiziell sind es die Wächter der Kathedrale.«
»Wie viele sind es?«
»Mit dem Major sind es acht.«
Alina schwieg bestürzt, mit so vielen Wächtern hatte sie nicht gerechnet. Als der Priester begann, die lange Liste der Herkunftsorte der Pilger zu verlesen, die sich heute registrieren und ihre Urkunde ausstellen ließen, schweiften ihre Blicke aufmerksam durch den Raum. Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge.
»Jetzt ist der Bota-Fumeiro an der Reihe«, flüsterte ihr Sandino zu.
Der an einem langen, von der Decke hängenden Seil befestigte Bota-Fumeiro , ein großer Weihrauchkessel, wurde, begleitet von dramatischer Orgelmusik, in Bewegung gesetzt. Es bot sich ein spektakuläres Schauspiel: Mit einer Geschwindigkeit von nahezu 65 Kilometern in der Stunde rauschte der riesige Weihrauchkessel wie ein Pendel durch die Luft und schwängerte das große Kirchenschiff mit die Sinne betörendem Weihrauch.
Alina sah nun die sieben Männer in ihren dunkelroten Mänteln, die den großen, über 50 Kilo schweren Silberkessel unter dem anschwellenden Raunen eines staunenden Publikums immer weiter in ein beinahe übermenschliches Schwingen versetzen. Schon trieben die dicken Weihrauchschwaden durch die Kathedrale, als der hin- und hersausende Kessel über den Köpfen des nach
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