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VT02 - Der gierige Schlund

VT02 - Der gierige Schlund

Titel: VT02 - Der gierige Schlund
Autoren: Michael M. Thurner
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Ästen, die wie mahnende Arme aus dem Gestein zu wachsen schienen – und glitt trotzdem weiter.
    Pjoost fiel ins Seil, in der Dunkelheit kaum mehr zu erkennen. Der erste Haken löste sich aus dem Fels, gefolgt vom zweiten. Seine beiden Brüder, die sich ein Stückchen unterhalb verankert hatten, schrien entsetzt, wollten ihn auffangen, während er an ihnen vorbeistürzte, griffen daneben.
    Der dritte Haken hielt wie durch ein Wunder. Der Strick spannte sich, Pjoost stieß einen erstickten Schrei aus. Ein erschreckendes Knacksen folgte. Es klang, als breche ein dürrer Ast.
    Vergessen war vorerst die Suche nach dem Abstieg. Zuallererst musste er den Mann aus seiner misslichen Lage befreien.
    »Ich kümmere mich um ihn!«, rief Kinga seinen Kameraden nach oben zu. Und, an Pjoost gerichtet: »Kannst du dich bewegen?«
    Ein Stöhnen, gepresst und undefinierbar, antwortete.
    Kinga schloss die Augen. Er versuchte sich an diesen Teil der Wand zu erinnern. »Versuch dich nach rechts zu drehen«, wies Kinga seinen Begleiter an. »Dort sollte sich eine Felsnase befinden, an der du dich in die Wand ziehen und das Seil vertäuen kannst.«
    Neuerlich keine Antwort. Bloß Röcheln.
    Der Woormreiter tastete nach Griffen in seiner Nähe, zog sich so rasch wie möglich zur Seite. Es blieb keine Zeit, das Gestein zu testen, durch geduldige Gewichtsverlagerung einen jeden Schritt abzusichern. Er musste riskieren, musste Pjoost so rasch wie möglich erreichen.
    Das Licht der Kopflampe erfasste einen winzigen Vorsprung auf halber Distanz zwischen ihm und dem Drillingsbruder. Ohne zu Überlegen pendelte er aus, sprang in Richtung des möglichen Halts, bekam ihn mit den Fingerspitzen zu fassen, krallte sich mit aller verbliebenen Kraft fest.
    Kinga tastete mit den Füßen blindlings nach zusätzlicher Sicherheit, heftig keuchend, mit immer bunter leuchtenden Sternen vor den Augen. Ein Felsbrocken löste sich unter dem rechten Bein, kollerte den Abhang hinab.
    Ich kann nicht mehr!, dachte er müde. Verzeih mir, Lourdes…
    Die Finger gaben nach, Stück für Stück, millimeterweise…
    Plötzlich fanden die Füße Halt. Er stand auf einem schwankenden Etwas. Das Wurzelwerk eines breiten Aststumpfs.
    Nachfassen mit den Händen. Gegen die Wand lehnen. Tief durchatmen, Sauerstoff durch den erschöpften Leib pumpen, Schrecken und Panik verdrängen. Über den nächsten Schritt nachdenken.
    Das Lampenlicht erfasste Pjoosts bleiches Gesicht. Der Mann klammerte sich an jener Felsnase fest, auf die er ihn hingewiesen hatte. Das Seil hing lose herab.
    Der Drillingsbruder war mehrmals gegen den Fels geprallt. Sein Gesicht war schwer in Mitleidenschaft gezogen. Der Unterkiefer wirkte seltsam lose, die Nase war zweigeteilt, die Lippen konturloser Fleischschorf.
    Kinga hämmerte, so rasch es ging, zwei Sicherungshaken ins Gestein, zog ihrer beider Seile zusammen und verankerte sie. Sie befanden sich in – fragwürdiger – Sicherheit.
    »Ich habe ihn!«, rief er nach oben.
    Vereinzeltes Aufseufzen antwortete ihm, und die Jubelschreie der beiden Brüder.
    Gut. Nun blieb noch, einen sicheren Weg abwärts zum Felsvorsprung zu finden, seine Begleiter in der Dunkelheit zu dirigieren – und den Schwerverletzten hinab zu transportieren.
    ***
    Irgendwie, irgendwann war es geschafft.
    Sie lagen oder saßen gegen den verfluchten Fels gelehnt, der ihnen so viel Mühe, Schweiß und Blut abverlangt hatte.
    Pjoost lamentierte vor sich hin. Er gab Sätze von sich, die kaum zu verstehen waren. Sein Gesicht war für alle Zeiten entstellt – so viel stand fest.
    »Nachtwind kommt auf«, flüsterte Vompa, der Sohn des Grenzbauern. »Ein Wetterumschwung naht. Starker Regen, womöglich.« Er lebte und arbeitete in felsigem Land, das schwierigsten Witterungseinflüssen ausgesetzt war, und wusste sicherlich, was er sagte.
    Verflucht. Die Schwierigkeiten wollten und wollten nicht abreißen.
    Andererseits würden die Männer durch die Aussicht auf weitere Probleme von jenem markerschütternden Schrei abgelenkt werden, der den Sturz Pjoosts verursacht hatte.
    »Holt die Planen aus den Rucksäcken«, befahl Kinga. »Wir müssen unser Nachtlager so rasch wie möglich sichern.«
    Mit Befriedigung registrierte er, dass selbst Zander seinen Anweisungen ohne Widerrede Folge leistete.
    Der Felsvorsprung war maximal zwei Meter breit und ungefähr fünfzehn Meter lang. Herabgestürztes Geröll verschaffte ihnen von der Seite her gewissen Schutz gegen Wind und Regen, der möglicherweise
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