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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht
Autoren: Bettina Belitz
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oder so. Oder ich werde Bildhauer. Fand ich auch immer interessant. Auf Steinen herumzuhauen, bis etwas daraus entsteht. Ach, es wird sich schon fügen. Und was willst du tun?«
    »Weißt du doch. Atlantis finden.«
    »Nein, ich meine jetzt. Konkret. Heute. In diesem Moment. Was willst du tun?«
    »Jetzt?«, frage ich irritiert und deute aus dem Fenster, obwohl das keinen Sinn ergibt. Ich dachte die ganze Zeit an die klassischen Dinge. Zusammen frühstücken, hier oder in einem Café, über die Kindheit sprechen, Pläne schmieden, all die Sachen, die frisch gebackene Paare tun. Nur merke ich gerade, dass ich das gar nicht will. Es fühlt sich klebrig an und wie unnötiger Ballast. Offen gestanden, fand ich das bei den anderen auch immer anstrengend. Denn jeder konkrete Plan beinhaltet bereits sein Scheitern, weil man sich zu fest an die Erfüllung klammert. Daher: keine Zu-zweit-Pläne. Die brauchen wir nicht.
    Doch es ist ungewohnt, nur für mich zu denken. Was will ich ? In drei Tagen werde ich nach Frankreich fahren und es gibt noch einiges vorzubereiten – aber jetzt? Heute? In dieser Stunde? Ich trete an das Fenster, auf das ich eben instinktiv gedeutet habe, und schaue hinaus. Ein märchenhaft schöner Sommertag ist angebrochen, mit einem kobaltblauen Himmel, über den die Schwalben schwirren, reiner, klarer Luft und einer unbeugsam starken Sonne, deren Versprechungen den nächsten Winter überdauern werden. Ich könnte meinen Tag an meinem Stein am Wasser verbringen. Das wäre gut. Aber zu wenig. Denn ich schaue von dort aufs andere Ufer, auf die Stadt und damit auf meine Vergangenheit und all ihre Schatten. Kein freier Blick.
    Unbegrenzt schauen, das wäre es.
    »Ich will ans Meer. Ja, das ist es. Ich will ans Meer. Ich will ans Meer!« Ich hüpfe im Stehen auf und ab, wie ein Kind, dem ein extragroßes Eis versprochen wurde. Mit strahlenden Augen drehe ich mich zu Jan um. »Ich will ans Meer.«
    »Dann fahr.« Er steht auf, geht in den Flur und wirft mir seinen Autoschlüssel zu. »In fünf Stunden bist du in Holland. Musst allerdings noch tanken unterwegs. Ich brauch die Karre erst am Montag wieder. Und kiff nicht zu viel.«
    Fassungslos blinzele ich ihn an. »Was?«
    »Richtig verstanden, nun hau schon ab, bevor ich es mir anders überlege. Fahrzeugpapiere klemmen unter der Sonnenblende. Mehr brauchst du nicht. Geld hast du ja dabei, oder?«
    Ja, das habe ich, zweihundert Euro von meinem Sparbuch, das jetzt blank ist, aber was soll’s?
    »Nicht nachdenken. Fahr! Na los, fahr schon! Hau endlich ab, Ronia!«
    Lächelnd gehe ich auf ihn zu, nehme sein verschlafenes Gesicht in beide Hände und küsse ihn zart auf seinen Mund und mit einem Mal öffnet er seine Augen, klar und rein. Sie sind voller Licht und so tief, dass sich meine Energien zu einem rauschenden Strom verwirbeln, um seinen zu begegnen. Denn meine Augen haben dieses Licht auch.
    Sekundenlang sehen wir uns direkt an. Staunend und voller Achtung, aber auch gewiss, dass uns nichts außer unserem Ego je trennen kann. Getrenntheit existiert nur in unseren Köpfen. Unsere Augen jedoch kennen die andere, helle Seite der Nacht.
    »Bis bald, River.« Es tut ein bisschen weh, wieder aufzutauchen und zuzusehen, wie seine Lider sich senken. Doch ich kann es ertragen.
    »Fahr vorsichtig. Und grüß mir das Meer!«
    Ich drehe mich nicht mehr um – ich werde ihn wiedersehen. Wenn nicht in diesem Leben, dann in meinen Träumen und den Tiefen meiner Seele. Aber jetzt will ich die Stadt verlassen.
    Es ist Zeit, den Horizont zu erobern.

Dem Himmel so nah
    D ie Straße scheint kein Ende zu nehmen. Seit zehn Minuten verfolge ich sie durch dünenartige, grasbewachsene Hügel und noch immer kann ich das Meer nicht sehen. Die lange Strecke steckt mir in den Knochen, ich bin das Autofahren nicht gewöhnt und habe eine gute Stunde gebraucht, bis die Schaltung nicht mehr krachte und ich Blinker von Scheibenwischer und Licht unterscheiden konnte. Ich müsste maximal gestresst sein und den Moment herbeisehnen, an dem ich endlich den Motor ausschalten kann.
    Doch mit jeder neuen Kurve werde ich neugieriger und wacher – was erwartet mich dahinter? Die Straße führt zum Strand, er war mehrfach ausgeschildert, also bin ich richtig. Ich lenke den Wagen in eine Seitenbucht, drehe den Schlüssel, lasse die Fenster herunter und lausche.
    Ja, ich höre es rauschen und die Möwen kreischen. So lange habe ich diese Geräusche nicht mehr wahrgenommen. Automatisch ziehe ich meine
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