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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht
Autoren: Bettina Belitz
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einem Bett zu schlafen. Nicht für Sex, obwohl ich mit vierzehn meine ersten Petting-Erfahrungen machte, denn das war der handelsübliche Preis für das Schlafen im gemeinsamen Bett. Ich wollte mich nur geborgen in seinen Arm kuscheln und meine Augen schließen. Vergessen. Ja, ich wollte vergessen – aber was? War es eine Flucht vor der unerträglichen Traurigkeit zu Hause, die jetzt keine Ablenkungsmöglichkeiten mehr hatte, weil Mama klar wurde, dass sie nie wieder einen Sohn haben würde? Damals hatte es also angefangen, dass ich mich in die Arme von Männern stürzte und nie fand, was ich suchte. Weil es das nicht gibt. Denn es war der Schmerz meiner Mutter, der mich dazu trieb. Wie sollte ich einen fremden Schmerz lösen? Spürten diese Männer den Schmerz und fühlten sich deshalb überfordert mit mir? Oder kamen sie mit der Ahnung nicht zurecht, welche Energie in mir schlummert, wenn ich erst einmal frei bin?
    »Ich hab das geahnt, Ronia. Dass es irgendetwas Unerlöstes in eurer Familie gibt. Dein Vater hat mich so intensiv und fragend angeschaut, als ich mit ihnen redete. Er wirkte gespalten auf mich. Ich glaube, in Wahrheit wünscht er sich sogar, dass du dich freikämpfst. Er ist ja nicht doof. Und er liebt dich.«
    Jan rückt ein Stückchen näher, um sein Knie gegen meines zu lehnen. Die Verbindung zwischen uns tut gut. Meine verspannten Schultern lösen sich.
    »Ja. Ich glaube das auch. Vielleicht ist er sogar froh, dass das heute alles ans Licht kam. Nur ich, ich brauche erst mal Zeit. Ganz viel Zeit.«
    »Die hast du ja. Alle Zeit der Welt.«
    Nein, die habe ich nicht, denn ich bin möglicherweise sehr krank. Aber ich sollte vielleicht trotzdem versuchen, sie mir zu nehmen, als gäbe es sie.
    »Jan, hast du mich vor unserer ersten Begegnung eigentlich gekannt? Vom Sehen? Wusstest du, wer ich bin?«
    »Klar. Du warst schon als Teenager spannend, mit deinen grünen Hexenaugen und deinem krassen Lockenkopf. Ich hab dich oft gesehen.« Jan blickt verträumt in den Garten hinaus. »Hab dich nicht verfolgt, bilde dir das bloß nicht ein. Aber du bist mir immer wieder über den Weg gelaufen, ohne mich zu bemerken. Und ich dachte mir – irgendwann kommt der Tag, an dem sie mich bemerkt. Oder er kommt niemals. Dann wäre es auch gut gewesen.«
    »Ehrlich, du wusstest, wer ich bin?« Ich bin mir der Doppeldeutigkeit meiner Frage bewusst. Aber genau so meine ich sie.
    Jan lächelt nur, ohne zu antworten. Ich weiß um dich, sagen mir seine Hände, die sanft über meine Finger gleiten. Und trotzdem gibt es so vieles, was wir einander noch erzählen und anvertrauen können, wenn wir den Mut dazu finden.
    »Ja«, sagt er schließlich doch, so leise, dass es nur ein Hauch ist – und es bringt all die Fragen und Wut in mir zum Schweigen.
    »Ja«, sage auch ich.
    Still halten wir inne. Ich kann es kaum fassen, Jan und ich sind uns in etwas einig. Wir lassen es sein und wirken, tief in Gedanken versunken, bis Jan nach einiger Zeit aufsteht und beginnt, die Marmeladengläser zu verschrauben.
    Wieso haben meine Eltern mich eigentlich überhaupt Ronia genannt – zwar mit i statt j für die nötige Portion Individualismus, aber klar nach dem Vorbild des Kinderbuchs, aus dem sie mir immer wieder vorlasen? Ronja streift den ganzen Tag unterhalb der Mattisburg durch den Wald und entdeckt die Welt, alleine und unbeobachtet. Ständig begibt sie sich in Gefahr und es ist nicht ihre Mutter, die vor Sorge umkommt, sondern ihr Vater. Ich möchte endlich meinem Namen gerecht werden und Mama soll versuchen, ein wenig wie Lovis zu werden. Ich wünsche es mir so sehr für sie. Sie muss heilen, wie ich.
    »Magst du probieren?« Jan hält mir einen Löffel mit Marmelade vor die Nase. »Hab was über.«
    »Nein, danke, mir ist irgendwie schlecht.« Das halbe Stück Zwetschgenkuchen rumort in meinem Bauch, seitdem ich von meinem Brüderchen erfahren habe. Meine alte, alljährliche August-Übelkeit. Jetzt weiß ich endlich, woher sie rührt.
    »Alles okay?« Jan schmeißt den Löffel in die Spüle und geht neben mir in die Hocke. »Ronia? Musst du spucken?«
    »Nein. Eher wieder weinen.« Mein Kopf neigt sich seiner Schulter entgegen, dieser dumme, alte Magnetismus. Sofort legt er beide Arme um mich und zieht mich an sich, bis wir voreinander auf dem Boden knien und uns eng umschlungen halten. »Ich hab noch nie in meinem Leben so viel geheult. Entschuldigung.«
    »Tja, der liebe Gott hält selbst für mich noch ein paar Prüfungen
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