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Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Titel: Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle
Autoren: Berndt Rieger
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Liebe von Müttern und Vätern zeigte, das Beste ihrer Seelen, das sie nun mir zu geben bereit waren. Sie alle aber überstrahlte das liebliche Gesicht meiner Mutter, die sprach: „Morgen wird der Tag deiner Krönung sein. Schmücke dich mit den Kleidern, die du im Tempel findest, und folge der Musik, die dich zu mir leiten wird in diesen Saal, der die Wiese der Glückseligkeit genannt wird.“
     
    Als ich am Morgen vor den Tempel kam, fand ich meinen Bruder wimmernd im Staub. Man hatte ihn übel zugerichtet. Sein Gesicht war von den Prügeln verschwollen, die man ihm zugeteilt hatte, und seine Kleider waren zerrissen. Vom Regen der Nacht, dessen Lachen spiegelnd den Tempel umstanden, war der Boden weich geworden, und mein Bruder über und über von Schlamm bedeckt, als er da vor mir im Dreck lag, bewegungsunfähig von den Riemen, mit denen man ihn gefesselt hatte. Er trug außerdem einen stählernen Ring um den Hals und eine Kette, die ins Innere des Tempels verlief, wodurch ich sogleich an eine Nabelschnur erinnert war. Zwar quälten mich Hunger und Durst, aber es mochte die Schlange in mir sein, die mich hellwach werden ließ. Ich erkannte das Zeichen. Einerseits die Wasserlachen, die so zahlreichen waren, dass man im Boden den Himmel gespiegelt sah und den Tempel, dessen Spiegelbild nach unten zeigte, und mich an die Polarität erinnerte, in die ich durch meinen Bruder gezwungen wurde. Dann die Nabelschnur, die meine Kette war, und die Kette, die nun meinem Bruder zur Nabelschnur wurde, die ihn an den Tempel heftete, den er gestern noch erobert zu haben glaubte.
    Ich hockte mich hin und stillte meinen Durst aus einer der Wasserlachen, bevor ich in den Tempel trat, und das war gut so, denn dort, hinter dem rechten Tor, standen Brot und Wein für jeden Gast bereit, der hier vorüber kam. Da ich aber, abgesehen von meinem Bruder, der Einzige war, der im Heiligen Bezirk weilt, waren sie für mich hier hingestellt worden, wie schon Tags zuvor. Der Kelch duftete verführerisch wie damals, und versprach die belebende Wirkung von gestern, weshalb ich mich unendlich beherrschen musste, nur einen ganz kleinen Schluck daraus zu nehmen, obwohl die Schlange in mir tobte und schrie, und vom Brot eine dünne Scheibe, an der ich lange kaute. Dermaßen gestärkt trug ich beides hinaus zu meinem Bruder, der gleichgültig, mit toten Augen auf dem Boden lag. Doch kaum hatte ich beides in die Nähe seines Hauptes gebracht, belebte sich sein Gesicht, und als ich ihm zu trinken gab, leerte er den Kelch, so schnell er konnte, mit hastigen Schlucken, durch die er einen Gutteil verschüttete. Auch das Brot schlang er hinab wie ein Verhungernder, und es tat auch rasch seine Wirkung. Schon war er kaum mehr wieder zu erkennen, hielt mir seine Fesseln hin und äußerte sich in seiner klickenden Sprache in einem Tonfall, der sogleich zu erkennen gab, dass er zwar darum bat, befreit zu werden, doch nicht flehentlich wie ein Bittsteller, sondern wie ein König, der einen zu auffordert, eine kleine Unannehmlichkeit aus dem Weg zu räumen. Ich kam der Bitte nach, und in dem Moment, in dem er frei war, stürzte er sich auf mich und prügelte auf mich ein, wodurch man die Rage erkennen konnte, die sich in ihm aufgestaut hatte, und er ließ mich die Schmach fühlen, die er meinetwegen erduldet hatte. Ich ließ alles willenlos mit mir geschehen. Im nächsten Augenblick sah ich mich gefesselt und mit dem eisernen Ring um den Nacken geknechtet, und hing nun meinerseits an der Kette, die eben ihn noch gequält hatte. All das ließ ich mit mir geschehen und schaute ihm danach reglos dabei zu, wie er sich im Wasser der Wasserlachen wusch, aus denen ich getrunken hatte.
     
    Er schleifte mich in die Richtung des Tempels, wo unbemerkt eine große Anzahl von Menschen hervor gekommen war. Leise und lautlos. Sie drückten sich an die Mauern und den Stein, als wollten sie ihre Rücken vor einer unbekannten Gefahr schützen. Oder als fürchteten sie, die Schwerkraft könnte augenblickslang aussetzen und sie so wie sie waren, ins Weltall reißen, auf dass sie eine Sekunde später an einem anderen Ort wieder zerschmettert worden wären.
    Es war ein Deja vu, was jetzt passierte. Angetrieben von der königlichen Haltung meines Bruders, der mich hinter sich her schleifte, begannen die Menschen zu summen und in die Hände zu klatschen und sich dabei rhythmisch zu verbeugen. Wir kamen dem Eingang des Tempels näher. Drinnen waren noch mehr Menschen, dicht an dicht,
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