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Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Titel: Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
Autoren: Christine Graefin von Bruehl
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saß sie am Küchentisch und häkelte unendlich lange Kordeln aus Luftmaschen. Daraus knüpfte sie Stirn- und Armbänder oder auch kürzere Reißverschluss- und Schlüsselanhänger. Ich zeigte ihr, dass man auch Flächen häkeln kann, aus denen dann Topflappen, Untersetzer oder gar ganze Puppenkleider entstehen, doch Mücke zeigte daran nur bedingt Interesse. Sie wolle weiterhin
normal
häkeln, wie sie es nannte. Das andere könne ihr später einmal die Thüringer Großmutter beibringen. Die sei schließlich Expertin.
    Mücke hatte unbedingt recht. Schrats Mutter kann |182| stricken, sticken, stopfen, nähen – alles, was das Herz begehrt. Ihre Mutter war Hutmacherin gewesen und hatte ihr schon als Kind die Leidenschaft vermittelt, Filze oder Stoffe so weit zu verarbeiten und mit Schnallen, Knoten, Blüten oder Schleifen zu verzieren, dass es am Schluss ein wahrer Schmuck für Haar und Kopf wurde. Entsprechend hatte sie sich diese Fähigkeiten angeeignet, und so sollte es weitergehen. Derlei Talente und Techniken sollten unbedingt von Generation zu Generation weitergegeben werden, fand ich. Aber was machte ich nun mit meinem angefangenen Lappen? Schließlich wollte ich nicht alles wieder aufribbeln. Also häkelte ich weiter.
    Zu meiner Überraschung stellte ich bald fest, dass diese zutiefst hausfrauliche Tätigkeit ungeheuer beruhigend auf mich wirkte. Schließlich hatte ich mir vorgenommen, nicht mehr so hektisch zu sein. Das Häkeln im Alltag erinnerte mich wohltuend an meine Mutter und auch an meine Großmutter. Sie hatten eigentlich ständig irgendeine Handarbeit gehabt, an der sie nebenbei arbeiteten. Wenn sie abends gemeinsam auf dem Sofa saßen und sich unterhielten, wurden der angefangene Wollpullover oder die traditionellen Baby-Schuhchen hervorgezogen und mit eifrigem Nadelgeklapper traktiert. Dabei ging das fröhliche Geplauder munter weiter.
    Der Druck, unter dem ich früher gestanden hatte, war deutlich schwächer geworden. Das war eine große Erleichterung. Ich schaffte vielleicht nicht mehr so viel wie zuvor, aber ich hatte wesentlich weniger Stress. Meine Freundin Vera lud mich per E-Mail für Freitag ins Konzert ein. Ich schaute auf den Kalender, überlegte einen Augenblick und sagte dann ab. Ich sei mit meinem Buchmanuskript in der Endphase, erklärte ich in meiner Antwort, |183| am Donnerstag käme meine Mutter zu Besuch, am Wochenende würden wir mit der Familie einen Ausflug machen und am Montag hätte ich einen Elternabend. Da würde nicht auch noch ein Konzertabend dazwischenpassen. Früher hätte ich versucht, den Termin um Himmels willen zu wahren – allein deshalb, weil ich an dem Tag noch nichts vorhatte.
    Zur Ruhe kommen will gelernt sein. Jeder muss seine eigenen Methoden dafür entwickeln. Manche nennen es heutzutage »chillen«. Andere schwören auf Meditation oder regelmäßige Spaziergänge. Besonders abends und vor dem Schlafengehen sollte man die Sinne sukzessive herunterfahren. Sonst liegt man im dunklen Zimmer, und die Bilder des Tages steigen vor einem auf wie Halluzinationen, schreibt die Journalistin Daniela Martens im Berliner
Tagesspiegel
: »Als Single sollte man sich vornehmen, mindestens eine halbe Stunde niemanden anzurufen, wenn man nach der Arbeit nach Hause kommt.« Wer Kinder habe, könne ihnen ab einem gewissen Alter beibringen, dass die erste halbe Stunde einem selbst gehört – um wieder bei sich selbst anzukommen. Das müsse man auch nach großen beruflichen Projekten beachten, bei denen man jeden Tag bis Mitternacht gearbeitet hat. Wenn sich ein Ende der arbeitsintensiveren Zeit abzeichne, sollte man langsam weniger arbeiten und auch schon mal eine Stunde früher nach Hause gehen. Sonst falle man am Ende in das berühmte schwarze Loch.
    Es klingt so einfach und naheliegend, als würde man das sowieso jeden Tag tun und als sei es ungeheuer albern, daraus eine ganze Wissenschaft zu entwickeln. Aber die wenigsten packen den Stier bei den Hörnern. Auch ich habe lange dazu gebraucht.
    |184| Veränderung löst neben der Vorfreude auf die neuen, schon lang ersehnten Freiheiten und Verbesserungen immer auch die sorgenvolle Frage aus, was eigentlich passiert, wenn man sein Ziel erst erreicht hat. Wird man am Ende zufriedener sein als zuvor? Wird das Erreichte mit all seinen Begleiterscheinungen wirklich dem entsprechen, was man vermisst und gesucht hatte? Jede Veränderung setzt Autonomie voraus. Und sie macht Arbeit. Gerade davon hat der überlastete Mensch schon
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