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Von der Nacht verzaubert

Titel: Von der Nacht verzaubert
Autoren: Amy Plum
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Vincent. Hast du mich mit der ausdrücklichen Absicht angesprochen, mich zu beleidigen oder wolltest du noch etwas anderes?«
    Vincent fasste sich mit der Hand an die Stirn. »Hör mal, es tut mir leid. Ich bin ein Vollidiot. Können wir ... Können wir noch mal von vorn anfangen?«
    »Womit von vorn anfangen?«, fragte ich zweifelnd.
    Er zögerte einen Augenblick und hielt mir dann seine Hand hin. »Hallo. Ich bin Vincent.«
    Meine Augen wurden schmal, während ich fieberhaft überlegte, wie ernst er das meinte. Ich nahm seine Hand und schüttelte sie etwas energischer, als ich beabsichtigt hatte. »Ich bin Kate.«
    »Schön, dich kennenzulernen, Kate«, sagte Vincent leicht irritiert. Eine viersekündige Pause entstand, in der ich ihn unentwegt zornig anstarrte. »Also, kommst du oft hierher?«, murmelte er unsicher.
    Ich lachte laut los, ich konnte einfach nicht anders. Er lächelte erleichtert.
    »Ja, ehrlich gesagt schon. Ich steh total auf Museen, nicht nur auf Picasso.«
    »Du stehst darauf?«
    Vincents Englisch war so gut, man konnte schnell vergessen, dass es nicht seine Muttersprache war. »Das heißt, ich mag sie. Sehr sogar.«
    »Gut, ich hab verstanden. Du magst Museen im Allgemeinen, nicht nur dieses hier. Und ... Hierher kommst du nur, wenn du meditieren willst?«
    Ich lächelte und rechnete es ihm innerlich hoch an, dass er sich solche Mühe gab.
    »Wo ist denn dein Freund hin?«, fragte ich.
    »Er ist gegangen. Jules lernt nicht gern neue Leute kennen.«
    »Wie charmant.«
    »Und wo kommst du her? Warte, lass mich raten. Großbritannien? Amerika?«, wechselte er das Thema.
    »Amerika«, antwortete ich.
    »Und das Mädchen, mit dem du manchmal unterwegs bist, ist deine ...«
    »Schwester«, sagte ich. »Hast du mir nachspioniert?«
    »Wenn zwei hübsche Mädels in meine Nachbarschaft ziehen — was bleibt mir da anderes übrig?«
    Eine Begeisterungswelle durchflutete mich bei diesen Worten. Er fand mich also hübsch. Aber er fand auch Georgia hübsch, meldete sich mein Verstand. Die Welle versandete.
    »Das Museumscafé hat eine Espressomaschine. Wie wär’s, wenn wir einen Kaffee trinken, während du mir erzählst, auf was du sonst noch so stehst?« Er berührte mich am Arm. Schon brandete die Welle wieder auf.
    Wir saßen an einem winzigen Tischchen vor zwei dampfenden Cappuccinos. »Nachdem ich nun einem Wildfremden schon meinen Namen und meine Nationalität preisgegeben habe, was willst du sonst noch wissen?«, fragte ich.
    »Oh, keine Ahnung ... Schuhgröße, Lieblingsfilm, sportliches Talent, peinlichster Moment, schieß los.«
    Ich lachte. »Äh, Schuhgröße 41, Frühstück bei Tiffany, absolut gar kein sportliches Talent und viel zu viele peinliche Momente. Die kann ich gar nicht alle aufzählen, bevor das Museum schließt.«
    »Das war’s? Mehr verrätst du mir nicht?«
    Meine Abwehrhaltung schmolz dahin, weil er so überraschend charmant war — und ausgesprochen ungefährlich wirkte. Vincent ermutigte mich dazu, von meinem früheren Leben in Brooklyn zu erzählen. Von meinen Eltern und Georgia. Von unseren Sommern in Paris, von meinen Freunden zu Hause, zu denen ich mittlerweile keinen Kontakt mehr hatte. Von meiner grenzenlosen Liebe für die Kunst und meiner Verzweiflung, als ich feststellen musste, dass ich keinerlei Talent hatte, mich selbst kreativ zu betätigen.
    Er löcherte mich weiter und ohne es eigentlich zu wollen, sprudelte es nur so aus mir heraus. Ich erzählte ihm alles, angefangen bei Bands, über Essen, Filme und Bücher — jedes erdenkliche Thema, das man sich nur vorstellen kann, kam zur Sprache. Im Gegensatz zu den Jungs, die ich von zu Hause kannte, schien ihn das tatsächlich ernsthaft zu interessieren, und zwar bis ins letzte Detail.
    Dass meine Eltern tot waren, erwähnte ich nicht. Ich sprach in der Gegenwart von ihnen und erklärte ihm, dass meine Schwester und ich bei meinen Großeltern wohnen würden, weil wir in Frankreich zur Schule gehen wollten. Das war ja auch nicht komplett gelogen. Aber mir war einfach nicht danach, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Ich wollte kein Mitleid von ihm. Und ich wollte wie ein ganz normales Mädchen wirken, das nicht die letzten sieben Monate in einer Welt voller Trauer zugebracht hatte.
    Seine Fragen kamen Schlag auf Schlag, ich bekam gar keine Gelegenheit, selbst eine zu stellen. Als wir irgendwann aufbrachen, hielt ich ihm das vor. »Jetzt liege ich vor dir wie ein offenes Buch — du weißt fast alles über mich, aber
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