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Vom Wahn zur Tat

Vom Wahn zur Tat

Titel: Vom Wahn zur Tat
Autoren: Thomas Stompe
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Gewalttäter
    Wie „normal“ ist Gewalt? Wenn kranke Menschen durch Gewaltanwendung zu Tätern werden, scheint das für die Gesellschaft akzeptabler zu sein als die Vorstellung, dass es „normale“ Gewalt gibt. „Gewaltfähigkeit, das Potenzial zur Gewaltanwendung, ist ein grundlegender anthropologischer Sachverhalt“, meint der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber. „Gewaltanwendung gehört als wichtige Fähigkeit zum Menschen wie Sexualität, Hunger oder Kooperationsfähigkeit. Aggressivität und Gewaltfähigkeit sind zur Durchsetzung gegen eine feindliche Natur und gegen die (gleichermaßen) egoistischen Neigungen der Mitmenschen notwendig.“ Damit will Kröber keineswegs Gewalt verherrlichen, aber die Diskussion enttabuisieren. Kröber, der an der Berliner Charité forscht, beschreibt in einem Artikel, wie Jugendliche auf der Suche nach einem Kampf durch die Nacht ziehen. Sie finden ihr Opfer relativ willkürlich. „Vor allem verdeutlicht dieser Fall“, so Kröber, „in Verbund mit den persönlichkeitsdiagnostischen Befunden, dass man keineswegs ein Aggressionsproblem haben muss, um Gewalttaten zu begehen. Dies auszusprechen ist im Strafprozess und noch mehr in der individuellen Kriminalprognostik fast schon ein Sakrileg: Es besteht der feste Glaube, wer Gewalt ausübe, sei strukturell aggressiver als andere, leide unter Aggressivität oder habe ein anderes psychisches Problem wie Impulsivität, das ihn hindere, seine Aggressivität unter Kontrolle zu bekommen. Bei Begehung der Tat verhält er sich natürlich aggressiv, aber er ist keineswegs zwangsläufig eine aggressive Persönlichkeit. Man würde ja auch jemanden, der sich im Geschlechtsakt sexuell verhält, nicht schon deswegen als sexualisierte Persönlichkeit bezeichnen.“ Und er zitiert den Machtforscher Heinrich Popitz, der meint: „Die Verletzungsmächtigkeit des Menschen wird vermutlich stärker als durch alle anderen Motive wie Hass und Verachtung durch Gleichgültigkeit geleitet. Die Indifferenz gegen die Leiden des Opfers bildet eine Schutzhaut, die uns Hemmungen und vor allem ein Bedenken dessen, was passiert, vom Leibe hält.“
    Allerdings, so Kröber weiter, zeige der erhebliche Rückgang von Gewaltanwendung in den Familien und Schulen in Deutschland, dass es nicht allein das starke Machtgefälle ist, das zur Gewaltanwendung führt, sondern dass nicht zuletzt die mit Familie, Schule oder Verein verknüpfte jeweilige Werthaltung des Umgangs miteinander das Gewaltrisiko bestimme: „Je stärker diese Werthaltung, das ‚commitment‘, aller Beteiligten Gewalt ausschließt, desto klarer tritt als Gewaltursache eine individuelle Aggressionsproblematik Einzelner hervor, die allerdings bisweilen andere mitziehen können. So finden wir auch bei Gruppendelikten, quasi als forensische Faustregel, dass mindestens einer von vieren gute prosoziale Fähigkeiten hat und auf dem Absprung ist, zwei sind vielleicht dissozial anfällig, und der vierte, nicht ganz selten der Älteste und Anführer, hat deutlich problematische, destruktive Persönlichkeitseigenheiten; bei diesem also ist die Gewaltbereitschaft nicht mehr Ausdruck einer noch entwicklungspsychologisch nachvollziehbaren Selbsterprobung, sondern bereits eine überwertige Methode zur Kompensation von personalen Defiziten und Ausdruck emotionaler Verwahrlosung.“ Gewalttätigkeit ist also in der Gesellschaft vorhanden. Sie kann nach verschiedenen Einteilungsprinzipien analysiert werden. Grundsätzlich ist zu unterscheiden: Es gibt Gewalt, die als Angriff, auf Verteidigung und/oder Abschreckung ausgerichtet ist. Eine weitere Achse, entlang derer das Phänomen betrachtet werden kann, beurteilt, wie viel Affekt in den jeweiligen Handlungen steckt. Es gibt Gewalttätigkeit, die vorwiegend affektgesteuert ist. In der Extremform, wie ja der Name sagt, gibt es die „Affektdelikte“ – und wir reden noch immer von nicht psychotischer Gewalttätigkeit. Auf der anderen Seite gibt es instrumentelle Gewalt. In dieser steckt wenig Affekt. Ein Beispiel wäre ein geplanter Mord, um einen ungeliebten Ehepartner loszuwerden.
    Delikte können auch nach der dahinter stehenden Motivation eingeteilt werden. Es gibt Gewalttaten, die aus einem Gruppenzusammenhang heraus entstehen, sie gründen in einer Art Gruppensolidarität. Es gibt Delikte, die bei Jugendlichen während der Identitätsbildung eine gewisse Rolle spielen. Im Erwachsenenalter ändert sich das: Nun gewinnen Beziehungsdelikte eine stärkere
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