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Vom Wahn zur Tat

Vom Wahn zur Tat

Titel: Vom Wahn zur Tat
Autoren: Thomas Stompe
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nicht weit entfernt von dem, was auch gesunde Menschen im normalen Leben tun.
    Oft werden kranke Menschen von der Polizei nicht ernst genommen. Zwar wird durchaus manchmal erkannt, dass der Anzeiger ein grobes psychisches Problem hat, trotzdem kommt es vor, dass der Polizist den psychisch Kranken wegschickt. – Eigentlich bräuchte er nur den Amtsarzt zu informieren: „Da ist ein Auffälliger, bitte schauen Sie sich ihn an.“ Doch genau hier gibt es nicht selten Informations- und Ausbildungsdefizite mit daraus resultierenden Handlungsunsicherheiten bei der Polizei. Es ist dem Beamten nicht klar, ob hier bereits eine Situation gegeben ist, die relativ gefährlich werden kann, oder ob er einen im Grunde harmlosen Querulanten vor sich hat.
    Psychotische Menschen, die wiederholt Hilfe suchen, werden daher oft von der Polizei oder anderen Institutionen weggewiesen. Das schränkt den Handlungsspielraum des Betroffenen weiter ein. Es ergeben sich daraus nahezu automatisch wieder Möglichkeiten, wie mit der fortgesetzten Bedrohung umgegangen werden kann – auch diese sind relativ logisch. Man merkt bereits: Es gibt im Handeln der späteren Täter immer wieder Strecken, die ganz einfach nachvollziehbar sind. Wenn sich jemand bedroht fühlt und bei der Polizei keine Unterstützung findet, gibt es die Möglichkeit, dass er sich an irgendeine andere Institution wendet, zum Beispiel an die Gerichte – oder er zieht sich zurück, versucht innerhalb der eigenen vier Wände zu bleiben, weil er sich da halbwegs sicher fühlt. Er kann die Türschlösser verstärken, auch das findet sich in den Berichten der Patienten. Oder, im Extremfall – und das ist, wie die hohe Suizidrate schizophrener Menschen zeigt, gar nicht selten – tötet er sich selbst, bevor er sich den Grausamkeiten der Verfolger ausliefert. Ein Drittel der Suizide von Schizophrenen wird aus diesem Motiv begangen.
    Die andere Möglichkeit ist, sich zu bewaffnen, die „typisch amerikanische Variante“ sozusagen. Der Kranke beschafft sich ein Messer oder eine Pistole, um sich im Falle eines Angriffs wehren zu können. Jetzt ist Feuer am Dach. Manchmal finden sich retrospektiv kleine Details, die den Point of no return markieren: Kranke, die sich ein Messer organisiert haben, besorgen sich ein zweites, denn wenn ihnen das erste weggenommen wird, so die Logik, haben sie mit dem zweiten weiter die Möglichkeit, sich zu wehren. Die aus derartigen Konstellationen resultierenden Tötungsdelikte haben, aus der Perspektive des Betroffenen, mehr den Charakter einer „Notwehr“.
    Tötungen aufgrund von wahnhaften Personenverkennungen sind eine weitere spezielle Variante. Der Täter glaubt hier, dass das spätere Opfer, in Wirklichkeit jemand anderer, im Falle des Capgras-Syndroms, ein ausgetauschter Doppelgänger, ist. Er schaut zwar so aus wie die eigentliche Person, verhält sich jedoch etwas anders, schaut vielleicht anders ... Das wird als Zeichen genommen. Dabei gilt zu bedenken: Treffen wir jemanden, der schwer verstört wirkt, so verhalten die meisten von uns sich unbewusst wirklich anders. Das wird vom Kranken dahingehend interpretiert, dass diese Person tatsächlich jemand anders sein muss. Für den Schizophrenen geht von diesem Doppelgänger eine nicht unerhebliche Bedrohung aus. Damit stehen die Kranken in einer langen abendländischen Tradition. In der Literatur der Romantik etwa kündigt die Begegnung mit dem Doppelgänger Wahnsinn und Tod an.
    Auch andere psychotische Phänomene können zu Tötungen führen. Da wären Stimmen, die dem Kranken etwas anschaffen. Medial sind solche Delikte sehr präsent, zahlenmäßig sind sie viel seltener als Tötungen aus einem Verfolgungswahn heraus. Auch hier ist die Tat nicht allein durch den Umstand, dass der Kranke einen Mordbefehl erhalten hat, erklärbar. Denn: Wenn uns im Alltag jemand sagt: „Geh hinaus und bringe die Person XY um“, so steht uns wohl ein breites Repertoire an möglichen Reaktionsmustern zur Verfügung. Mord gehört aber üblicherweise nicht dazu. Was macht also den Unterschied, ob es eine Stimme im Kopf ist, die es befiehlt, oder ob jemand von außen kommandiert? Unter welchen Umständen kann man zu dieser inneren Stimme nicht „Nein“ sagen? – Hier sind wir wieder beim Wahn angelangt, denn letztendlich steht hinter der Stimme immer etwas. Wiederum gibt es zwei Varianten: Entweder steckt neuerlich eine Bedrohung dahinter, dann sagt die Stimme: „Mach etwas und wenn du es nicht machst, dann
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