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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
Autoren: Clough Patricia
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ließ Sarahs Interesse daran nach. Sie genoss es, im Garten des Bauernhauses zu sitzen und Kaffee zu trinken. Und sie verstand sich gut mit zwei oder drei der ehemaligen Klassenkameraden, mit denen der Kontakt nie ganz abgerissen war. Doch ansonsten war es schwierig, das Gespräch aufrechtzuerhalten, die anfängliche Neugier an den verschiedenen Lebensgeschichten war bald erschöpft. Sie suchte schon nach einer Ausrede, um nicht an der Tour durch die neue Hafenstadt teilnehmen zu müssen, die für den zweiten Tag geplant war.
    Am Abend fuhren sie gemeinsam zu einem netten Landgasthof, wo sie dreißig Jahre zuvor ihr Abitur gefeiert hatten. »Es stoßen noch ein paar dazu, die nicht früher konnten«, kündigte Franz an. Und tatsächlich, als sie zu dem Gasthof kamen, saßen dort schon drei Klassenkameraden, einer von ihnen war … oder … tatsächlich … Yuri! Sarahs Herz machte einen kleinen Sprung. Yuri, ihre erste Liebe, wirkte kräftiger, breiter als früher, sein wildes Haar war von grauen Strähnen durchsetzt. Er stammte aus einer Spätaussiedlerfamilie und war erst mit sechzehn, nachdem die Familie die Sowjetunion verlassen durfte, in die Klasse gekommen. Er sprach ein etwas altmodisches und gelegentlich fehlerhaftes Deutsch, er war immer zu Streichen aufgelegt und hatte keine Lust, sich anzupassen. Vor allem aber war er sehr intelligent, wie ein Schwamm sog er alles auf und schaffte das Abitur mit den allerbesten Noten. In den letzten beiden Schuljahren waren Yuri und Sarah unzertrennlich gewesen. Ihre Eltern sahen in ihm den Sohn, den sie nie gehabt hatten. Nach dem Abitur trampten sie einen ganzen, wunderschönen Sommer lang durch Italien. Und im folgenden Herbst verließ Yuri Deutschland, um an der Yale University zu studieren, wo er ein Stipendium bekommen hatte.
    Ein paar Jahre schrieben sie sich noch. Einmal kam er im Sommer nach Deutschland, um seine Eltern zu besuchen, die aber bald darauf ebenfalls nach Amerika zogen. Die Briefe wurden immer spärlicher. Sie waren beide mit ihrem Studium beschäftigt, hatten neue Freunde, verliebten sich. Irgendwann brach der Kontakt ganz ab. Über verschiedene Ecken hörte Sarah, dass er für einige große amerikanische Firmen arbeitete, dass er verheiratet war und eine Familie hatte. Auch sie heiratete, die Erinnerung an Yuri, ihre Jugendliebe, begann zu verblassen.
    Und warum zitterte jetzt ihre Hand? Warum klopfte ihr das Herz bis zum Hals? Warum fehlte dem, was sie sagte und was sie tat, auf einmal jede Selbstverständlichkeit? Was um Himmels willen war da los?
    Beim Essen saß ihr Yuri gegenüber, sie begannen sich zu unterhalten. Anfangs verlief ihr Gespräch ähnlich wie die, die sie mit den anderen Klassenkameraden geführt hatte. Sie brachten sich gegenseitig auf den neuesten Stand, erinnerten sich an ein paar lustige Begebenheiten. Doch was Sarah bei den anderen als mühsam empfunden hatte, interessierte sie bei Yuri brennend. Plötzlich war dieses Klassentreffen das schönste, was sie in all den Jahren erlebt hatte. Sie redeten immer weiter, Sarah fiel kaum auf, dass sie die anderen praktisch ignorierten.
    Als Yuri kurz verschwand, stupste ihre Freundin Inge sie mit dem Ellbogen an und sagte: »Oh, oh, ihr beiden …«
    Â»Sei nicht albern«, protestierte Sarah, »wir haben uns eben eine Ewigkeit nicht gesehen.«
    Yuri und Sarah bemerkten kaum, dass nach und nach die ganze Gesellschaft aufbrach, und sie hätten wohl die ganze Nacht durchgeplaudert, wenn nicht Yuris Freund Tom, bei dem er übernachtete, unruhig geworden wäre. Yuri musste gehen.
    Sarah erinnert sich nicht an die Heimfahrt, sie war mit ihren Gedanken ganz woanders. Zu Hause konnte sie nicht einschlafen, sie wälzte sich hin und her und dachte nur noch an Yuri … Yuri … Yuri …
    Â»Was hast du denn«, fragte ihr Mann müde.
    Â»Ich kann nicht schlafen«, antwortete sie. »Vielleicht habe ich etwas Falsches gegessen.«
    Am Morgen war sie erschöpft, doch sie fühlte sich lebendiger als je zuvor. Sie setzte sich in den Wagen und fuhr zur Hafenstadt. Doch Yuri war nicht da. Sie traute sich nicht, Tom zu fragen, der von sich aus keine Erklärung lieferte. War Yuri vielleicht krank?
    Als der Touristenführer das Mikrofon in die Hand nahm, flüsterte sie Franz zu: »Ich glaube, es fehlen noch welche.«
    Â»Ein paar haben abgesagt, und Yuri will später
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