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Vom Nehmen Und Genommenwerden

Titel: Vom Nehmen Und Genommenwerden
Autoren: Peter A. Schroeter , Doris Christinger
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wenn wir begehren oder begehrt werden, fühlen wir uns wahrgenommen und lebendig. Natürlich hängt sexuelles Begehren neben biochemischen Reaktionen auch von der jeweiligen Kultur und Gesellschaft ab. In unserer Kultur gilt das Begehren als besonders starke Form der zwischenmenschlichen Kommunikation.
    Unabhängig davon, ob wir ein Mann oder eine Frau sind, spüren wir den Blick des anderen und erfassen blitzschnell, ob dieser Blick neutral oder begehrend ist. Männer sind eher visuell geprägte Wesen und werden von der Heftigkeit des Begehrens oft nahezu ȟberfallen«: ein Werbeplakat, der Anblick eines Busens – schon törnt es den Mann an. Alle fünf Minuten wird das männliche Begehren durch einen meist optischen Reiz ausgelöst. Er hat Lust auf Sex, ist geil, fühlt sich getrieben und unruhig.
    Sexuelles Begehren sollte jedoch nicht mit Trieb verwechselt werden. Für uns ist das Begehren die feminine Seite des Sex und untrennbar mit Eros verbunden, also mit Sinnlichkeit, Flirt und Sehnsucht. Trieb hingegen steht für den maskulinen Aspekt des Sex, der untrennbar mit zielgerichteter Aggression verbunden ist. Der Trieb will penetrieren, die Geliebte nehmen, während sich ihm die Geliebte entgegendrängt, um sich nehmen zu lassen. Wird die sexuelle Begegnung jedoch ausschließlich vom Trieb gesteuert, fühlt sich Sex kalt und leblos an. Denn es ist Eros, der dem Sex Wärme, Sinnlichkeit und Verspieltheit schenkt. Beim sinnlich-feurigen Lieben kann die Begegnung sogar in ein Nehmen und Sich-nehmen-Lassen übergehen.
    Begehren ist also die Lust auf die Lust, die durch die Aktivierung neuronaler Hirnstrukturen ausgelöst wird. Interessanterweise sind die Sexualorgane beim Begehren noch nicht beteiligt. Erst in der Phase der Erregung und des Orgasmus kommen sie ins Spiel. Das Begehren ist ein Vorläufer der Lust und wird auch als Appetenz bezeichnet. Dieser »Appetizer« ist eine eigenständige erste Phase im sexuellen Reaktionszyklus, bei dem fünf Stationen unterschieden werden können: Appetenz – Erregung – Plateau – Orgasmus – Refraktär-Phase (Phase der Rückbildung). Die Appetenz-Phase wurde erst relativ spät als Teil des sexuellen Geschehens erkannt. Das mag eine Erklärung dafür sein, dass noch in den 50er-Jahren Unlust oder fehlendes Begehren in der Sexualtherapie kaum beachtet wurde, während die Sexualwissenschaft ihre Untersuchungen ganz der erektilen Dysfunktion (Erektionsschwierigkeiten des Mannes) oder Präorgasmie (Frauen, die keinen Orgasmus haben) widmete.
    Der zeitliche Höhepunkt sexueller Appetenz und Lust liegt bei Männern bei 17 Jahren, bei Frauen bei 40 Jahren. Das bedeutet, dass die Frau ihre Phase der stärksten Appetenz dann erreicht, wenn die höchsten Wellen der Lust beim Mann bereits verebben. Allgemein wird Begehren meistens dem Mann zugeschrieben: Er gilt in seiner sexuell aktivsten Phase als Jäger und reduziert Frauen oft zum Sexualobjekt. Eine junge Frau reagiert dann häufig mit Angst, verdrängt ihr eigenes, oft mit Schuldgefühlen besetztes Begehren und projiziert dieses auf den Mann. Als Folge davon fühlt sie sich bedrängt. Die Männer werden in ihren Augen zu gefürchteten Aggressoren. Trifft der Mann jedoch in einer späteren Lebensphase auf Frauen, die auf dem Höhepunkt ihrer sexuellen Appetenz angekommen sind und zu ihrem Begehren stehen, ist es genau umgekehrt. Sie offenbaren ihr Begehren, und er projiziert seine aggressiven Anteile auf sie. Dadurch macht er Frauen zu angstbesetzten Figuren, zu männermordenden Vamps. Die Urangst des Mannes vor der verschlingenden Kraft des Weiblichen sitzt genauso tief wie die Urangst der Frau vor der penetrierenden Kraft des Männlichen. Viele Geschichten und Märchen erzählen davon: Salome und Johannes der Täufer, Lorelei, Circe, Lulu, Delilah und Samson, Undine und die Fischer.
    Aber bleiben wir bei unserem biologischen Erbe. Unser größtes Sexualorgan ist das Gehirn. Hier laufen sämtliche Informationen, Empfindungen, Erinnerungen, Erfahrungen und Deutungen zusammen und bestimmen unser sexuelles Erleben. Im Laufe der Evolution entwickelten sich drei Hirnteile, die miteinander verbunden sind.
    Das »Reptilienhirn« (Stammhirn, Kleinhirn und verlängertes Mark), der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil, ist für alle unbewusst ablaufenden
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