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Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)

Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)

Titel: Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)
Autoren: Uwe Hück
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ich nicht glauben, was aus diesem Heim geworden ist. Es heißt jetzt »Heilpädagogisches Kinder- und Jugendhilfezentrum der evangelisch-lutherischen Kinderfreundegesellschaft e.V.«. Es gibt Sportlehrer, Psychotherapeuten, Menschen, die daran arbeiten, aus diesen Kindern Menschen mit Perspektiven zu machen. Das moderne Konzept unterscheidet jetzt zwischen heilpädagogischen und intensiven Wohngruppen, der Einzelne steht im Mittelpunkt. Sie bieten Gesprächstherapien an und die Eltern- und Familienarbeit wird mit einbezogen. Als ich 1973 hier eingewiesen wurde, hatten die Jahre im Kinderheim, die hinter mir lagen, schon einen verrohten Jungen aus mir gemacht. Ich glaubte damals, dass mir die Erzieher in meinem alten Heim schon das Rückgrat gebrochen hatten. Zumindest fühlte sich das manchmal so an. Sie hatten mich kleingekriegt, die vielen Strafen und Ungerechtigkeiten zeigten Wirkung. Manche meiner Betreuer habe ich im Nachhinein eher als Aufseher empfunden, die sich nicht immer aufs Erziehen von uns Kindern konzentriert haben. Wenn ich heute im Fernsehen Berichte über den Augsburger Bischof Blixa oder die Odenwaldschule sehe, frage ich mich oft, wie viele Kinder wohl nach den bekannt gewordenen Missbrauchsfällen auf der Strecke geblieben sind. Wie viele Heimkinder haben die kirchlichen Einrichtungenauf dem Gewissen? Wie viele von ihnen waren überhaupt in der Lage, später ein normales Leben zu beginnen? Werden sie jemals angemessen entschädigt werden?
    Ich kam also auf den Sperlingshof und es sah hier auch nicht besser aus für mich. Ich musste wieder von vorne anfangen, Hierarchien abklopfen, mögliche Feinde beobachten, Verbündete finden, mir Respekt verschaffen. Ich musste wieder überleben in einer neuen Umgebung. Es dauerte nicht lange, da gab es auch hier die ersten Reibereien. Mir war sehr bald aufgefallen, dass zum Beispiel der Wurstanteil bei der Essensausgabe sehr unterschiedlich ausfiel. Mit anderen Worten: Das Haus, in dem ich lebte, bekam so gut wie nie Wurst oder andere gute Sachen zu essen. Damals, als es um den Käse ging, hatte ich verloren. Das sollte mir jetzt nicht noch einmal passieren. Ich zettelte einen Aufstand an. Mit meinen Brüdern im Geiste, Winnetou und Robin Hood, kämpfte ich mich bis zur Heimleitung vor. »Wenn du dich nicht wehrst, wirst du beschissen«, versuchte ich dort mein Ansinnen zu erklären. Diplomatisch und keineswegs aggressiv, aber zu allem entschlossen. Man verstand mich. Ich verlangte mehr Wurst und sie gaben uns mehr Wurst. An diese frührevolutionären Tage auf dem Sperlingshof musste ich später manchmal denken, wenn ich als Gewerkschafter in Tarifverhandlungen saß. Wenn wir um Lohnerhöhungen kämpften, um Sonderleistungen stritten, für soziale Gerechtigkeit eintraten. Die Wurst muss aufs Brot, für alle!
    Die anderen Kämpfe auf dem Sperlingshof waren heftiger. Es gab Anführer in diesen Häusern, in denen wir untergebracht waren. Diese Häuptlinge galten immer als die Stärksten ihres Hauses, sie hatten sich in den kleinen Hierarchien hochgeboxt. Anführer wurdest du nicht mit klugen Worten. Zu den sportlichen Ereignissen unseres Alltags gehörten dieHäuserkämpfe. Boxen ohne Handschuhe, der Stärkste aus Haus 1 gegen den Stärksten aus Haus 2. Dann die Zweitstärksten gegeneinander, mehr Regeln brauchten diese Faustkämpfe nicht. Wer zu Boden ging, musste schon aufgeben, wenn er einigermaßen unversehrt aus der Sache herauskommen wollte. Doch wer gab schon gerne auf und ließ sich die nächsten Tage freiwillig als Weichei verspotten? Ich hatte mich schnell hochgearbeitet in meinem Haus und mir schon einen gewissen Ruf erworben, weil ich einen stärkeren Willen hatte als andere meines Alters. Ich muss damals zwischen 13 und 14 gewesen sein, als diese Herausforderung aus dem Nachbarhaus einging. Ich erinnere mich nicht mehr, wie viele Kämpfe und Schlägereien ich in all den Jahren erlebt habe. Heute weiß ich nur, dass es keinen Grund gibt, stolz darauf zu sein. Das habe ich auch meinen drei Söhnen mitgegeben. Sie sollen einfach nicht erleben müssen, womit ihr Vater oft täglich konfrontiert war.
    Dieses eine Mal werde ich nie vergessen: Die Kämpfe begannen, als wir sicher sein konnten, dass uns kein Erzieher stören würde. Es kommt der Wahrheit aber wahrscheinlich näher, dass sich keiner vom Personal in unsere Nähe getraut hat. Ich bin mir sicher, sie hatten Angst, selbst verhauen zu werden. Ich kannte meinen Gegner. Mir waren seine Stärken sehr
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