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Voll das Leben (German Edition)

Voll das Leben (German Edition)

Titel: Voll das Leben (German Edition)
Autoren: Sandra Gernt
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Augen, die vollkommen leer auf Nick herabblickten. Entsetzt streckte Nick die Hände nach ihm aus.
    „Komm da runter! Bitte Jan, mach keinen Scheiß, okay? Komm runter!“ Er packte zu, krallte sich mit aller Kraft in den nassen Stoff der Jacke, bereit, ihn zur Not mit Gewalt von diesem Pfeiler runterzuzerren.
    Doch Jan leistete keinerlei Widerstand, er fiel regelrecht in Nicks Arme. Die Schnapsflasche glitt dabei aus seinen Händen, rutschte über das Brückengeländer und verschwand in der glitzernden Dunkelheit des Flusses. Nick schaffte es irgendwie, nicht mit ihm zu Boden zu gehen. Jan war erschreckend kalt und viel zu leicht für einen Mann seiner Größe. Dennoch war es schwierig, ihn aufrecht zu halten, bis sich Jan schwankend am Geländer festklammerte. Nick ließ ihn probehalber los. Da Jan langsam in sich zusammensackte, wollte er ihn rasch wieder packen. Doch nun begriff sein betäubter Verstand, was die erstickten Laute und das heftige Zucken bedeuteten und er schrak zurück. Hilflos blieb er neben dem zusammengekauerten Körper stehen und sah zu, wie Jan nahezu still weinte. Nick wollte ihn trösten, er wusste bloß nicht, wie man das machte, ohne ihn in den Arm zu nehmen. Unbehaglich wartete er, während seine Hände und Füße allmählich zu Eisklumpen gefroren.
     
    „Hey, ähm, jetzt beruhig dich mal wieder.“ Nicks Stimme drang zu Jan durch. Er schnappte mühsam nach Luft, schaffte es, das Schluchzen einzudämmen und die würdelose Tränenflut zu stoppen. Zitternd vor Kälte und Elend blieb er auf dem nassen Holz der Brücke hocken. Was sollte er auch sonst tun?
    „Ich bring dich nach Hause, okay?“
    Über eine Millionen Menschen lebten in dieser gottverdammten Stadt. Warum musste ausgerechnet Niklas Wöhrner vorbeikommen, um seinen Lebensretter zu spielen?
    „Ich habe kein Zuhause mehr“, flüsterte Jan mühsam mit klappernden Zähnen, während er die Beine noch enger an den Körper zog. „Ich bin seit heute obdachlos. Den Schnaps hatte ich von meinem letzten Geld gekauft. Ich wollte mich besaufen und dann von der Brücke springen, falls ich mich traue. Oder eben meinen Einstand als Penner begießen.
    Leider konnte ich mich nicht mal überwinden, das Ding aufzumachen. Selbst zum Saufen bin ich zu blöd.“ Jan wünschte, er könnte wütend sein. Und sei es nur auf sich selbst, weil er wochenlang nicht die Kraft gefunden hatte, zum Arbeitsamt zu gehen. Er wusste, dass er an seinem Elend selbst schuld war. Das war ein Grund, wütend zu werden! Wut würde ihn wärmen. Doch da war nur grenzenlose Leere in ihm. Er spürte, wie Nick sich neben ihm niederkauerte. Konnte der nicht einfach verschwinden? Er hatte wirklich keine Lust, sich mit diesem selbstsüchtigen Arsch auseinanderzusetzen.
    „Hör zu, Jan, du kannst nicht hier draußen bleiben. Was ist mit deinen Eltern, leben die noch?“
    Jan schnaufte unwillig. „Woher soll ich das wissen? Als Dennis krank wurde, habe ich zum letzten Mal angerufen. Mein Bruder hat mir Prügel angedroht, wenn ich es noch einmal versuchen sollte, weil ich doch unserer Mutter ‚das Herz rausgerissen‘ habe.“
    Schockiertes Schnaufen.
    „Wir leben im 21. Jahrhundert, in einer deutschen Großstadt, nicht im Mittelalter in irgendeinem gottvergessenen Bergdorf!“
    „Na und?“ Jan versuchte zu lachen. Es klang jämmerlich.
    „Tolerant waren meine Eltern immer nur bei der Tagesschau, wenn mal wieder irgendein armer Schwuler verprügelt wurde. Als ich mich dann outete … Man habe ja nichts gegen solche Menschen, aber die Nachbarn müssen das nicht erfahren, oder?“
    Jan verkniff sich den Nachsatz, dass Nick normalerweise noch viel schlimmer als seine Familie war. Grotesk, das ausgerechnet der sich jetzt aufregte. Doch dieser Mann versuchte wenigstens, ihm zu helfen. Das war mehr, als Jan ihm jemals zugetraut hätte.
    „Was ist mit deinen Freunden?“, fragte Nick nach einer langen Pause. „Du kannst nicht hier draußen bleiben, es wird immer kälter. Schau wie du zitterst, du erfrierst ja jetzt schon!“ Er packte zu und zerrte Jan energisch auf die Beine. „Also, deine Freunde? Wo kannst du unterkriechen?“
    Jan blickte in sein besorgtes Gesicht. Was war bloß mit Nick geschehen?
    „Wenn ich Freunde hätte, dann hätte ich Dennis nicht allein begraben müssen, oder?“
    „Du verarschst mich!“
    „Nein, leider nicht. Niemand ist gekommen. Niemand.“ Verbittert wollte Jan sich losreißen und wegrennen. Die Kälte war gut. Wenn er heute Nacht erfror,
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