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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Autoren: Dirk Bernemann
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meines Vaters starrend, wie ferngesteuert mit der Trauergemeinde in ein nahegelegenes Café ging.
    Die Leute setzten sich nach und nach hin und auch der Geistliche war uns gefolgt und unterhielt sich mit meinem Vater, der sehr einsilbig und desinteressiert blickend Auskunft erteilte. Wahrscheinlich dachte er an die Kuscheligkeit Erikas, statt wirklich eine Trauer zu empfinden; ich meine, er hatte mit meiner Mutter zusammengelebt bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein Zusammenleben nicht mehr möglich war, weil die Hilfeleistungen, derer meine Mutter bedurft hatte, die Fähigkeiten und auch das Verständnis meines Vaters übertrafen. Außerdem wirkte Erika in meinen Augen wie etwas bäuerlich Standhaftes mit Ewigkeitsanspruch, etwas, dem mein Vater bedurfte, um nicht an den Einfachheiten des Lebens, wie dem Zubereiten einer Mahlzeit, zu scheitern. Da waren meinerseits keine schlechten Gefühle vorhanden, für mich war es nicht so, als ob mein Vater meine Mutter gegen eine andere Frau eingetauscht hatte, sondern ich hatte das Gefühl, dass sich mein Vater für die Sicherheit des Weiterlebens entschieden hatte, und zwar mit offensiver Geisteshaltung.
    Kaffee, Kuchen, Small Talk. Der Kreis der Verwandten und Bekannten setzte sich nieder, ihre Gewissenhaftigkeit zu zelebrieren. Ich sah, wie mein Vater am Nebentisch eine angeregte Unterhaltung mit Frau Overberg führte und dabei ab und zu einen väterlichen Blick auf mich fallen ließ. Das tat gut, das machte ein wenig Verbindung, es ließ den Anschein entstehen, dass es sich bei uns doch um so etwas wie eine Familie handelte, obwohl wir füreinander nicht so interessant waren. Die letzten Gesten meines Vaters hatten mir das deutlich gezeigt, dass da Liebe in ihm stattfindet, dass hinter seiner Arbeiterfassade eine Seele aus hauchdünnem Glas zu finden ist. Caro musste irgendwann gehen, weil sie noch Dinge für ihre Uni zu erledigen hatte, aber sie hatte schon viel getan für mich in den letzten Tagen, dass dieser Schritt, ihr Schritt zurück in eine gewisse Normalität sehr guttat und einfach sehr natürlich wirkte. Wir küssten uns an der Tür des Cafés und ihr Blick beinhaltete viel Beistand, und ich wusste, wenn es noch Liebe gab, dann vor allem in Personen wie ihr.
    Ich gab an diesem Nachmittag vielen Menschen die Hand, die mir nichts bedeuteten, deren Worte leere Phrasen waren, die nach Inhalten suchten, nach Halt, nach der wirklichen Wirkweise der Wirklichkeit, und die sich doch vor der Echtheit von Gefühlen fürchteten. Dem Gefühl, der Vergänglichkeit auf keinen Fall begegnen zu wollen, begegnet man paradoxerweise gehäuft auf Beerdigungen. Die eigene Sterblichkeit schieben die Leute vor sich her wie eine Schubkarre, deren Inhalt ihr Leben darstellt und die sie irgendwann irgendwo auskippen müssen, weil ihnen einfach die Kraft abhandenkommen wird, weiterzulaufen. Aber zu Lebzeiten mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu werden ist immer noch eine der größten Schwierigkeiten des Menschseins.
    Die Verwandten und Bekannten meiner Mutter aßen und tranken und die Geräuscharmut ihrer klinisch poliert wirkenden Trauersprache hing im Raum wie giftiges Gas, von dem jeder wusste, dass es gefährlich war, dem sich aber jeder eine Weile seiner mitgebrachten Zeit aus Pietätsgründen zu stellen hatte. Dann verließ Frau Overberg die Veranstaltung, jedoch ohne sich von mir oder meinem Vater zu verabschieden. Ich sah sie ihren Kuchen essen, ihre Strickjacke zuknöpfen und aufstehen. Auch sie fühlte sich wie auf einer Pflichtveranstaltung, deren Beiwohnen viele negative Gefühle absorbierte, ihr bisweilen sogar miese Empfindungen in den Kaffee pisste, doch sie trank ihn mit gewohnter Gelassenheit.
    Als mein alter Vater anhob, ebenfalls zu verschwinden, und noch ein paar alte Nachbarn an den Tischen kalte Kaffeereste durch ihre Porzellantassen schwenkten, spürte ich, dass alles gut war, alles richtig war; es fühlte sich alles so biologisch rein an, was hier passiert war. Meine Mutter hatte ihr Gehirn und dessen Funktionen aufgeben müssen, anschließend ihr Leben, und mein Vater hatte sich frühzeitig arrangiert, um nicht einsam und hilflos zu enden, sondern um dem Leben noch etwas Resonanz abzugewinnen. Er umarmte mich mit festem Druck. «Bis bald, Junge, du und deine Freundin, kommt bald mal wieder vorbei ...» Ich nickte nur, Worte hatte ich nicht mehr, hatte alle gedacht, alle verbraucht und fühlte mich immer noch so leerdesinfiziert vom Leben, aber auch von einer
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