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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Autoren: Dirk Bernemann
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zuckenden Beharrlichkeit zurück.
    Der letzte Satz, den ich gesagt hatte, kam mir kurz nach dem Aussprechen schon seltsam vor. Der klang ein wenig so, als würde ich die vorherrschende Trauer gar nicht zulassen können. Der Satz klang wie das Ankünden einer Übersprungshandlung, die ich mir nicht vorstellen konnte, weil ich vor einem großen Berg zu überwindender Ereignisse stand, die wiederum mit Gefühlen zusammenhingen, die mich lähmten, mich beschwerten, mich flug-, denk- und spaßunfähig machten. Aber ich hatte ihn gesagt, diesen Satz, wenn auch unterbewusst, ohne wirklich darüber nachzudenken, was der denn bedeuten sollte, außer dem Ausdruck meiner Sehnsucht, dass die Trauer endlich von mir abfallen sollte.
    Die Trauer hatte es geschafft in mich einzuziehen, um meinen Körper zu bewohnen. Wohnrecht auf unbestimmte Zeit hatte sie sich verschafft. Es gab Tage, an denen sie nicht zu Hause war, aber derzeit lag sie stumpf und breit auf der Couch des behäbigen, teilweise aus depressiven Störungen resultierenden antriebslosen Alltags, fraß sich mit Chips voll und würde sich erst regen, wenn ich imstande wäre, mich zu regen. Oder aufzuregen. Nicht mal das ging, ich war gefühlsmäßig in einer Niederung beheimatet, die sich wie das Starren und Warten eines wartenden Starrers an einem ostdeutschen Dorfbahnhof anfühlte, nachdem die letzte Bahn abgefahren war. Nur noch mattes Leuchten am Horizont.
    Dass Kai jetzt ging, hinterließ mehrere Gefühle. Einerseits freute ich mich für ihn, für den verdienten Erfolg eines muffelig riechenden Künstlers, der Großes zu schaffen imstande war. Es war die ultimative Gelegenheit, es war die Möglichkeit für ihn aufzusteigen, nicht bloß genetische Spuren in den Unterleibern seiner Liebschaften zu hinterlassen, sondern künstlerische Spuren, über die man vielleicht in einigen Jahren noch sprechen würde. Dann wurden wir schwankende Boote im Hafen des Schweigens und zeigten einander dadurch die Tiefe unseres Respekts.
    Wir rauchten immer noch und wieder schwiegen wir scheinbar endlos. Kleine Abschiede und große Abschiede. Kai wirkte wie ein fotografisch festgehaltenes stilvolles Stillleben, ein wenig wie ein verwackeltes Polaroid, ein mit viel künstlerischem Aufwand bedachtes Ausstellungsstück in einer Ausstellung, die da «Prozesse: Das verwelkende Leben und banale Verwirken von Menschen um die Dreißig, die immer noch glauben, sie können es schaffen» hieß. Den rauchenden Kai stellte ich mir in diesem Moment als Platzhalter auf einem Ausstellungswerbeplakat vor, quasi als das Gesicht seiner und meiner Generation, die liegen geblieben war zwischen Turbokapitalismus, der Vielfalt der Optionen und der allgemeinen Betäubung und trotzdem immer wieder den Aufstand probte. Ja, Kai war ein verwackeltes Polaroid, aber das lag wahrscheinlich daran, dass ich wie ein geschlagenes Kind zu weinen begonnen hatte. Kai saß da und hatte Respekt vor meiner Trauer, da kam keine Umarmung, die wollte ich auch nicht, kein tröstendes Tätscheln auf irgendwelche zitternden Körperteile; nein, er blieb da neben mir an die Wand gelehnt, rauchte in einer Gelassenheit des Vielwissers und die Ruhe, die er ausstrahlte, das war präzise das, wonach ich schrie.
    Irgendwann stand ich auf, sah noch einmal in seinen gutherzigen Blick, und wir nickten uns wortlos zu als Bestätigung eines Verständnisses, das einfach da war. Ich bin hier, weil du auch hier bist. Das hätte ich noch sagen können, aber manchmal sind es solche Worte, die solche großen Momente so austauschbar machen, denn solche Sätze konnte man immer sagen, nicht aber immer konnte man solche Momente erleben.
    Seine Tür im Rücken, ihn im Rücken wissend, ging ich mit dem Gefühl des melancholischen Erhabenseins in meine Wohnung. Die paar Schritte waren mit seltsamen Gedanken bestückt. Ein wenig war es wie damals, als ich Schmidt im Dreck seiner verkommenen Existenz zurücklassen musste, nur mit dem Unterschied versehen, dass hier noch ein Mensch war, der Möglichkeiten besaß. Und wir besaßen die Möglichkeit uns wiederzusehen. Was wohl aus Schmidt geworden war? Ich wünschte ihm, dass er, die Dead Kennedys auf den ausgefransten Ohren, Holiday in Cambodia singend in irgendeiner Anstalt, die zur Aufbewahrung von Drogenopfern gemacht war, noch ein wenig der sein konnte, der er war. Ich dachte an seinen weintraubenförmigen Penis und den Geschmack, den dieser in meinem Mund verursacht hatte.
    Kai würde morgen in aller Frühe in
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