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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio
Autoren: Anne Rice
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NICHT MEHR IST

    Ich war sechzehn, als ich starb. Ich bin recht groß gewachsen, habe dichtes braunes Haar, das bis auf die Schultern fällt, und haselnussbraune Augen mit einem allzu verletzlichen Ausdruck, der mir ein androgynes Flair verleiht. Meine Nase ist erfreulich schmal und der Mund von durchschnittlicher Größe, weder zu füllig noch zu schmal. Ein schöner Knabe in seiner Zeit. Wäre es anders gewesen, lebte ich heute nicht mehr.
    Das gilt für fast alle Vampire: Schönheit führt uns ins Verderben, selbst wenn einige etwas anderes behaupten. Oder genauer gesagt, wir werden von denen unsterblich gemacht, die sich unserem Zauber nicht entziehen können.
    Mein Gesicht ist nicht kindlich, aber es wirkt fast schon engelhaft. Die Augenbrauen sind dicht, dunkel und so hoch gewölbt, dass die Augen dadurch in übermäßigem Glanz erstrahlen. Die Stirn wäre vielleicht etwas zu hoch, wenn sie nicht so gerade wäre, und mein dichtes, braunes, lockiges Haar verleiht dem ganzen Bild einen bewegten Rahmen. Mein Kinn ist ein wenig zu kräftig, zu eckig für das übrige Gesicht, aber immerhin hat es ein Grübchen.
    Mein muskelstrotzender Körper mit der breiten Brust und den mächtigen Armen lässt mich sehr maskulin erscheinen. Das betont noch meine unnachgiebig wirkende Kie-ferlinie, die mich als voll entwickelten Mann durchgehen lässt, zumindest aus einer gewissen Entfernung.
    Diesen gut entwickelten Körper verdanke ich der Tatsache, dass ich in den letzten Jahren meines sterblichen Lebens fleißig mit dem schweren Langschwert geübt ha-be und mit meinen Falken häufig auf wilde Jagd in die Berge zog, hinauf und hinab, oft zu Fuß, obwohl ich in dem Alter schon vier Pferde mein Eigen nannte, davon eines, das besonders kräftig und groß war, so dass es mein Gewicht mit voller Rüstung tragen konnte.
    Meine Rüstung liegt immer noch unter diesem Turm begraben. Ich habe sie nie in einer Schlacht getragen. Zu jener Zeit war Italien von Kriegen überzogen, doch die Schlachten der Florentiner wurden immer von Söldnern geschlagen.
    Mein Vater musste sich nur an eines halten: an seine absolute Loyalität gegenüber Cosimo; und außerdem durfte er keinem Abgesandten des Heiligen Römischen Reiches, des Herzogs von Mailand oder des römischen Papstes erlauben, Truppen über unsere Bergpässe zu führen oder sie in unseren Dörfern rasten zu lassen. Das war unproblematisch, denn wir lagen fern der Hauptrou-ten. Unternehmungslustige Vorfahren hatten unsere Burg vor dreihundert Jahren erbaut. Wir konnten uns auf die Langobarden als Vorfahren berufen oder sogar auf jene Barbaren, die aus dem Norden nach Italien gekommen waren, und ich glaube, ihr Blut floss in unseren Adern.
    Aber wer weiß das schon? Seit dem Niedergang des antiken Rom waren so viele Stämme in Italien eingefallen.
    In unserer Gegend fand man interessante Erinnerungen an die heidnische Vergangenheit; manches Mal kamen uralte, fremdartige Grabsteine auf unseren Feldern zum Vorschein und seltsame kleine Göttinnen aus Stein, denen das Bauernvolk immer noch Verehrung entgegen-brachte, wenn wir sie ihnen nicht wegnahmen. Unter unseren Festungstürmen gab es Gewölbe, die angeblich sogar auf die Zeit vor Christi Geburt zurückgingen - und inzwischen weiß ich, dass das wahr ist. Sie stammen von dem Volk, das wir heute als Etrusker kennen.
    Unser Hauswesen, das im Stil der alten Feudalherren ge-führt wurde, die den Handel verachteten und von ihren Mannen nur Kühnheit und Tapferkeit verlangten, war angefüllt mit Schätzen, die in zahllosen Scharmützeln er-beutet worden waren - alte silberne und goldene Kandelaber und Wandleuchter, schwere hölzerne Truhen mit Verzierungen im byzantinischen Stil, dann die üblichen flämischen Wandbehänge und zentnerweise Spitzen-stoffe und Bettvorhänge, sämtlich von Hand mit Gold-borten und Juwelen besetzt, und alles, was es an begeh-renswertem Putz sonst gab.
    Da mein Vater die Medici so sehr bewunderte, kaufte er auf seinen Reisen nach Florenz alle möglichen Luxusgü-
    ter. In den wichtigeren Räumen war kaum ein unbedeckter Stein zu sehen, denn überall lagen blumengemusterte wollene Teppiche, und jeder Flur und jeder Alkoven hatte seine Waffenkammer, voll mit klappernden, rostenden Rüstungen von Helden, an die sich kein Mensch erinnern konnte.
    Wir waren unermesslich reich; das hatte ich schon als Kind mehr oder weniger mitbekommen, und es gab An-deutungen, dass sowohl wertvolle Kriegsbeute als auch geheime heidnische
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