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Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann

Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann

Titel: Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
Autoren: Lisa J. Smith
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für solche Gefühle hatte sie keine Zeit. Geh, und such eine Telefonzelle, ermahnte sich Kait.
    Als sie noch in Ohio gewohnt hatte, hätte sie Angst gehabt, nachts durch eine fremde Stadt zu gehen, geschweige
denn, von dort mindestens fünfzig Kilometer in eine andere, ihr gänzlich fremde Stadt zu fahren. Doch sie war mittlerweile eine andere Kaitlyn als noch vor wenigen Wochen in Thoroughfare. Sie war mit Widrigkeiten fertig geworden, die sie sich nicht einmal im Traum hätte vorstellen können. Sie hatte ohne Hilfe von Erwachsenen die Reise nach Kanada unternommen und gelernt, sich auf ihre Stärken zu besinnen. Ihr blieb überhaupt keine Wahl. Sie konnte nicht bis zum nächsten Morgen warten, denn bei Tag wäre sie nie von den anderen weggekommen.
    Für ein Taxi reichte ihr Geld nicht. Sie musste irgendwie anders über die Bucht nach San Carlos kommen.
    Mit einer fast beängstigenden Gelassenheit machte sie sich auf den Weg.
    Das Viertel, in dem Marisol wohnte, war bürgerlich, und so fand sie eine Telefonzelle, in der das Telefonbuch noch intakt war. Auf den Informationsseiten zur Region suchte sie die Buslinien heraus. Zum Glück fuhren fast alle Busse rund um die Uhr. Sie fand sogar heraus, welche Route sie nehmen musste: erst nach San Francisco, um über die Bucht zu kommen, dann südwärts nach San Carlos.
    Mit schlechtem Gewissen riss sie den Linienplan aus dem Telefonbuch – so etwas tat man nicht, aber immerhin handelte es sich um einen Notfall. Mit dem Stadtplan von Oakland schlug sie sich bis zum MacArthur
Boulevard durch. Laut Linienplan fuhr von dort aus ein Bus der Linie N, der auch nachts ging.
    Dort angekommen, seufzte sie erleichtert auf. An der Ecke MacArthur und 73. Straße befand sich eine Tankstelle, die geöffnet hatte. Der Angestellte erklärte ihr, dass der Bus jede Stunde fuhr. Der nächste komme um 03.07 Uhr. Er war sehr freundlich, nicht viel älter als Kaitlyn, mit glänzender schwarzer Haut und einem Bürstenschnitt. Kaitlyn blieb bei ihm im Kiosk, bis sie den Bus kommen sah.
    Auch der Busfahrer war nett. Kait durfte sich hinter ihn setzen. Er war korpulent und hatte unter dem Fahrersitz einen unerschöpflichen Vorrat an Schinkenbroten, die in fettiges Butterbrotpapier eingewickelt waren. Er bot Kait eines an, und sie nahm es höflich an, aß es aber noch nicht, sondern steckte es ein. Durch das Fenster sah sie die dunklen Gebäude und gelben Straßenlaternen vorbeiziehen.
    Wenn das kein Abenteuer war. Die Reise nach Kanada hatte sie mit den anderen vier unternommen. Doch nun war sie allein und außerhalb der Reichweite ihres telepathischen Netzes. Sie konnte innerlich kreischen, und niemand würde sie hören. Als der Bus die Bay Bridge erreichte, die über die Bucht führte, und die Träger der geschwungenen Brücke vor ihr leuchteten, als wäre Weihnachten, durchfuhr Kaitlyn ein unbändiges Glücksgefühl. Sie drückte ihre Reisetasche mit beiden Händen
an sich, setzte sich sehr aufrecht hin und blickte hinaus aufs Wasser.
    An dem Busbahnhof angekommen, an dem sie umsteigen musste, kratzte sich der Fahrer am Doppelkinn. »Du musst einen Bus der San-Mateo-Linie nehmen. Geh über die Straße, und warte auf den 7B, der kommt in etwa einer Stunde. Der Busbahnhof ist nachts geschlossen, wegen der Obdachlosen, also musst du draußen warten.« Ehe er die Tür schloss, rief er ihr noch ein »Viel Glück« zu.
    Kaitlyn schluckte und überquerte die Straße.
    Ich habe keine Angst vor Obdachlosen, sagte sie sich. Ich war auch schon obdachlos, habe auf einem unbebauten Grundstück geschlafen und in einem Van am Strand übernachtet und …
    Doch als sie eine Gestalt in karierter Jacke und Kapuze auf dem Kopf auf sich zukommen sah, die einen Einkaufswagen schob, bekam sie doch Herzklopfen.
    Der Kerl hielt direkt auf sie zu. Kaitlyn konnte nicht sehen, was sich in dem Wagen befand, denn er war mit Zeitungspapier abgedeckt. Auch das Gesicht konnte sie nicht erkennen. Nur die kräftige Statur ließ sie vermuten, dass es sich um einen Mann handelte.
    Er kam langsam näher. Warum langsam? Beobachtete er sie? Kaitlyns Herz schlug immer schneller, und ihre Hochstimmung war wie weggefegt. Wie dumm von ihr, nachts allein durch die Gegend zu kutschieren. Wäre sie doch nur in ihrem sicheren warmen Bett geblieben.

    Die Gestalt in der Karojacke war nicht mehr weit. Kaitlyn konnte nirgendwohin. Sie saß fest in einer einsamen Straße, in einer gefährlichen Stadt. Nicht einmal eine Telefonzelle war in der
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