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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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nun hieß es zuerst, sich inmitten des konfusen neuen Anfangs zurechtzufinden. Noch war die Sorge nicht ausgestanden, ob Deutschland in zwei Teile nach Norden und Süden auseinanderfallen würde. Unruhen waren an der Tagesordnung. Rechtsradikalen
Mordanschlägen fielen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zum Opfer, später Matthias Erzberger und Walther Rathenau.
    Seiner Neigung gemäß strebte mein Vater in den Auswärtigen Dienst. Die dortigen Offerten waren zunächst unklar und mager, und er hatte eine sechsköpfige Familie zu ernähren. Von dem Berliner Großindustriellen Klingenberg erhielt er ein überaus verlockendes Angebot. Sein Verstand, so schrieb er seinen Eltern, ziehe ihn mehr in die Wirtschaft, aber sein Herz ins Auswärtige Amt, und schließlich folgte er dieser inneren Stimme.
    Der erste Auftrag führte ihn in die Ruhe und den Frieden des neutralen Auslands. Er wurde Konsul in Basel. Die Stadt war geprägt von ihrem wirtschaftlich-industriellen Aufschwung, vom traditionellen und gegenwärtigen Rang ihrer Universität mit den Namen Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche, Karl Barth und Edgar Salin, vor allem aber von ihren Patrizierfamilien Vischer, wiederum Burckhardt, Sarasin und wie sie alle hießen. Der Zugang zu ihnen war schwer. Das Examen war erst bestanden, wenn einer von ihnen über einen Neuankömmling etwa sagte: »Enfin notre genre.«
    Trotz zahlreicher Zwischenfälle, die einige der rund fünfundzwanzigtausend Reichsdeutschen verursachten, war mit den Baseler Behörden gut auszukommen. Ein durchweg freundlicher Ton beherrschte ihren Notenwechsel mit dem Konsulat. Als ich 1987 im Zuge eines Staatsbesuchs nach Basel kam, erhielt ich von den Vertretern des Kantons als Geschenk eine fotokopierte Sammlung dieser wohlverwahrten Noten; das hat mein Herz erwärmt.
     
    In Basel begründeten meine Eltern zwei lebenslange Freundschaften. Die eine wurde mit Carl J. Burckhardt geschlossen, dem Neffen von Jacob, mit seiner Richelieu-Biographie selbst ein bedeutender Historiker, ein Schriftsteller hohen Ranges und naher Freund des Dichters Hugo von Hofmannsthal. Von Beruf war er eigentlich Diplomat. Er wurde später Hoher Kommissar
des Völkerbundes in Danzig und Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf. Meinen Eltern blieb er in allen Wirrnissen und Krisen persönlich und politisch nahe verbunden. Ich lernte ihn erst nach dem Zweiten Weltkrieg kennen; er war eine skeptische geistige Persönlichkeit von unwiderstehlicher Ausstrahlung.
    Die andere besonders nahe menschliche Beziehung entwickelte sich zu Robert und Margret Boehringer, ein Freundschaftsband, das die ganze Familie umschloß. Hier stoße ich auch auf die ersten Spuren meiner eigenen, frühkindlichen Erinnerung. Ich spüre noch meinen vertrauensvollen und gehorsamswilligen Respekt, den ich am 6. Dezember 1923 vor dem gütig richtenden, nie enttarnten Baseler Nikolaus hatte, eben vor Robert Boehringer. Bis in sein hohes und mein mittleres Alter hinein erlebte ich seine ruhige und wohlwollende Strenge. Er war neben meinen Eltern der für mich wichtigste Erwachsene, der mit seinem stets prüfenden Zuspruch prägenden Anteil an meiner Erziehung hatte. Freiberuflich und höchst erfolgreich war er bei der Baseler pharmazeutischen Industrie tätig, lebte vor allem aber als Privatgelehrter. Manchen Fachleuten galt er als der beinahe noch bessere Archäologe im Vergleich zu seinem Bruder Erich, der es immerhin bis zum Präsidenten des Deutschen Archäologischen Instituts gebracht hatte. Er war ein Dichter, ein naher, zuletzt der nächste Freund und Erbe von Stefan George. Als ich elf Jahre alt war, nahm er meine Geschwister und mich in Berlin einmal in eine atelierartige, feierlich hohe Mansardenwohnung mit. Dort setzte er mich neben einen alten Herrn, der seine starke Hand um meinen Nacken legte, so daß ich sie dort noch bis heute zu spüren vermeine. Es war Stefan George, wie ich erst viel später erfuhr.
    Mit seiner jüdischen Frau, einer hochbegabten Juristin, wanderte Robert Boehringer, der Schwabe, schon 1932 aus Deutschland in die Schweiz aus, da er das Unheil kommen sah, und ließ sich in Genf nieder, arbeitete beim Internationalen Roten Kreuz
und half, wo er konnte. Wie kein anderer stand er meinem Vater in den schweren beruflichen Konflikten der Nazizeit und später beim Nürnberger Gerichtsverfahren zur Seite, als kritischer Freund ebenso wie aus tiefem Vertrauen und Verständnis. Nach dem Krieg sorgte Theodor Heuss
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