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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Hessen stammenden Reichsgerichtsrats von Meibom kennen. Bald verlobten sie sich, und am Tag danach kam es zu einem heiteren Gedankenaustausch. Er fragte sie, warum sie ja gesagt hätte. Ihre Antwort: »So was läßt mer halt net naus.« Auf ihre Gegenfrage, wie seine Reaktion im Falle ihres Nein gewesen wäre, hätte er sich, wie er sagte, mit dem Gedanken getröstet: »Des isch aber e rechte Gans.« Nein, das war sie, meine Großmama, wahrlich nicht. Sie hatte einen klaren Verstand, war von einer eher lautlosen, nüchternen Warmherzigkeit und von einem ausgeprägten Gefühl für Sitte und Anstand. Handele, wie du es vor dir selbst verantworten kannst, das war ihre Maxime für sich und für uns. Sie war hilfreich und streng zugleich. Nicht um die Wirkung nach außen ging es ihr, sondern um innere Maßstäbe.
    Es waren unruhige, immer schwerer werdende Zeiten für den Ministerpräsidenten. Die internationale Isolierung des Reiches nahm zu. Im Spannungsfeld zur Zentralmacht verfügten die Länder kaum über Einfluß auf die Außenpolitik des Reiches, zu schweigen von den provozierenden Bravaden des Kaisers.
    Im Königreich Württemberg ging es immer noch recht liberal zu. 1907 kam es in Stuttgart zu einem internationalen Sozialistenkongreß unter Teilnahme von Bebel und Rosa Luxemburg, Lenin und Trotzki, Jean Jaurès und einem linken Revolutionär aus Italien mit dem Namen Mussolini; gemeinsam wurden Kapitalismus und Krieg scharf verdammt. Über die Erlaubnis zu dieser Tagung in der schwäbischen Hauptstadt entrüstete sich der Kaiser in Berlin: Das sei die »Königliche Republik Württemberg«.
    Als der Weltkrieg ausbrach, sagte Weizsäcker Anfang August 1914 inmitten der vaterländischen Begeisterung zu seinen Vertrauten: »Dieser Krieg endet mit einer Revolution.« Er, der in den ersten Wochen des Krieges seinen ältesten Sohn verlor, hatte kaum Einfluß auf die Ereignisse im Reich. Maßvoll bleiben, Friedensfühler ernst nehmen, keine Expansionspolitik betreiben,
das waren seine ständigen Mahnungen. Mit Entrüstung widersetzte er sich dem ebenso hartnäckigen wie unsinnigen Streit der Bundesländer um die noch gar nicht eroberte, aber erhoffte Kriegsbeute fremder Territorien. Seine größte Erbitterung galt dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg, dessen dürftige Chancen und fatale Folgen er klar vorhersah. Hätte man in Württemberg mehr Geld, so sagte er, dann müßte man mehr Irrenhäuser bauen, um dort alle die vielen U-Boot-Narren unterzubringen.
    Als dann die entscheidenden Weichen falsch gestellt wurden, wenig später Reichskanzler Bethmann Hollweg zurücktrat und die Vereinigten Staaten Deutschland den Krieg erklärten, ließ die Oberste Heeresleitung durch zwei Reichsminister bei Weizsäcker vorfühlen, ob er bereit sei, Reichskanzler zu werden. Er winkte sofort ab. Es war alles viel zu spät, zumal die Macht im Reich praktisch längst nicht mehr bei der Reichsregierung lag, sondern beim Militär.
    Der Krieg ging zu Ende. Die Revolution kam. Der letzte königliche Ministerpräsident von Württemberg, der noch 1916 von seinem Monarchen in den erblichen Freiherrnstand erhoben worden war, trat zurück. Er tat es mit Gelassenheit. Von einem Tag auf den anderen räumte er seine Dienstwohnung für seinen sozialdemokratischen Nachfolger Blos in bestem persönlichen Einvernehmen, freilich ohne seine Freude an spitzen Kommentaren unterdrücken zu können. Die nachrückende Familie nannte er »die Blöße«.

Die Eltern in ihren Familien
    Zum Durchbruch kam nun eine völlig veränderte Welt. Das Lebensglück unzähliger Familien war zerstört; ein Bruder meines Vaters, zwei Brüder meiner Mutter waren gefallen. Eine neue, fremde, schwer durchschaubare, unsichere Epoche begann.

    Natürlich war der Sturz der Monarchie nicht allein die Folge des verlorenen Krieges. Unter der Decke hatte während der letzten Jahrzehnte der Kaiserzeit etwas gekeimt, was oft eine Revolution genannt wurde, in Wahrheit aber eine Übergangsphase war, in der gründlich Überlebtes künstlich am Leben gehalten worden war. Nicht nur einige der Monarchen und der privilegierten Geburtselite hatten durch ihr Verhalten dazu beigetragen. Auch die alte Leistungselite, vor allem also das Großbürgertum, hatte letzten Endes versagt. Es hatte die unaufhaltsamen Veränderungen in einer sich industrialisierenden Gesellschaft nur ungenügend verstanden und mitgestaltet. Es war zum Besitzbürgertum geworden. Das Ideal der freien und verantworteten
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