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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Sozialdemokrat Wilhelm Keil in einer Stuttgarter Zeitung, die revolutionäre Bewegung habe sich nicht im geringsten gegen die Person des Königs gerichtet, sondern gegen den Gedanken der Monarchie, den der gleichnamige Kaiser in Berlin Bankrott gemacht habe. Die persönliche Achtung, die das Volk dem König selbst bisher entgegengebracht habe, bleibe ungemindert bestehen. Sogar der Spartakist Seebacher erkannte das korrekte Verhalten des Königs an und meinte zur Notwendigkeit, die Monarchie abzuschaffen, nur: »S’ischt halt wegge dem Sischteem.«
Schon beim 25. Thronjubiläum im Jahre 1916 hatte der Vorsitzende der Sozialdemokraten erklärt, sie seien zwar Republikaner, aber wenn es soweit sei, würden sie den König zum Präsidenten wählen. Dieser war bis zuletzt ein nobler, humaner, tüchtiger Monarch. Nach Kräften förderte er die freie Entwicklung seines Landes. In seiner Zeit wurde Württemberg zum »Musterländle«.
    Doch nun war Frühling 1920. Meine Eltern hatten das Winterhalbjahr mit ihren drei Kindern, meinen älteren Geschwistern, in Den Haag verbracht, wo mein Vater als Marineattaché an der deutschen Gesandtschaft in den Niederlanden tätig war. Dort gingen der Dienst und das Gehalt zu Ende. Meine Mutter stand unmittelbar vor der Geburt eines Kindes. Die Familie schickte sich eilig zur Heimreise an, aber wie? Überall in Deutschland gärte es, von rechts und links. Immer wieder kam es zu blutigen Zusammenstößen. Die Schulden des Reichs beliefen sich auf 300 Milliarden Mark. Der Kapp-Putsch brach aus. Er war ein von weit rechts inszenierter Umsturzversuch. Die Reichsregierung mit Friedrich Ebert an der Spitze wich zunächst nach Dresden und später nach Stuttgart aus; von dort rief sie die Arbeiterklasse zum Schutz der Republik auf. Es folgte der Generalstreik. Die Eisenbahnen lagen still.
    Nach vieler Mühe fanden meine Eltern einen kleinen holländischen Rheinfrachtdampfer, auf dem die Familie von Nimwegen aus aufbrechen konnte. Es folgte eine sechstägige Fahrt auf dem Strom ohne Schiffsverkehr, vorbei an verwaisten Häfen, an Schießereien in Duisburg, an alliierten Fahnen in Köln und Bonn. Gemäß dem verheißungsvollen Schiffsnamen »Kinderdyk« wäre ich beinahe an Bord auf dem Rhein ein veritabler Sohn des Stromes geworden. Doch wurden glücklicherweise unmittelbar vor meiner Geburt der rettende Mannheimer Hafen und von dort aus die Württembergische Landeshauptstadt erreicht. So kam ich, wie schon meine beiden Eltern und drei meiner vier Großeltern, in Stuttgart zur Welt.

    Die väterliche Familie stammt aus dem fränkischen, hohenloheschen Land, das sich der Kurfürst und spätere König Friedrich von Württemberg 1805 nicht ohne französische Hilfe einverleibt hatte. Für die Hohenloher blieb Württemberg noch lange die Fremde. Eine Symbiose mit den Schwaben ging ihnen gegen den Strich. Als mein Ururgroßvater aus der alten Hohenloher Residenz Öhringen zur Ausbildung in das württembergische Blaubeuren fahren mußte, legte ihm seine Mutter warm ans Herz, nicht das häßliche Schwäbisch zu lernen, sondern der fränkischen Mundart treu zu bleiben. Dennoch wuchs man in Württemberg schließlich friedlich zusammen.
    Es ist eine parzellierte, vielfältige, oft etwas enge Landschaft, die den neugierigen Drang in die Welt fördert, ohne daß er die Heimatliebe lockern würde. Man ist eher bedächtig als redselig, eher bewahrend als umstürzlerisch. Man hat starke Gefühle wie alle Menschen, behält sie aber vorzugsweise für sich, um nicht aufdringlich zu wirken. Viele Familien stammen vom Land. Auch die Industrialisierung beseitigt die zumeist ländliche Prägung nicht ganz. Wer in der Fabrik arbeitet, versucht sich sein kleines »Gütle« zu erhalten. Es gehört sich, fleißig und sparsam zu sein, wobei die Leistungen oft weit über das gebaute Häusle hinausgehen.
    Schwäbische Tüftler und Erfinder haben der Welt das astronomische Fernrohr und den Benzinmotor, die Mundharmonika und den Volkswagen beschert. Schon früher waren wichtigste Impulse zur geistigen Entwicklung und Einigung der Deutschen aus dem Schwabenland gekommen. Die Namen Kepler und List, Hegel und Schelling, Schiller und Uhland, Hölderlin und Mörike erinnern daran. Manche von ihnen zog es aus der engeren Heimat in die Ferne, wo sie zuweilen rascher berühmt wurden als zu Hause. Helmut Thielicke, dereinst nach Württemberg verschlagener rheinischer Theologe, pflegte zu sagen, es gehöre zu den Besonderheiten der
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