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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Testaments, mit der er sich bemühte, Ergebnisse der Geschichtsforschung aus dem griechischen Urtext heraus im Deutschen verständlich zu machen. Er galt als unorthodox, völlig selbständig, liberal und konservativ zugleich.
    Sein wacher politischer Sinn bewahrte ihn vor der Isolierung in einem wissenschaftlichen Elfenbeinturm. Er wurde Rektor der Universität Tübingen, später ihr Kanzler, nach damaligen Begriffen also Vertreter des Staates an der Universität und damit ex officio Mitglied des Württembergischen Landtages. Dort übte er Sitz und Stimme in großer Unabhängigkeit von der Regierung aus.
    Er war ein ökumenischer Vorkämpfer für den konfessionellen Frieden. Aus seiner nahen Freundschaft mit dem katholischen Bischof Hefele von Rottenburg ist eine kleine Begebenheit überliefert. Der Bischof war vom I. Vatikanischen Konzil aus Rom zurückgekehrt, auf dem das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes, von seiner »Infallibilität« beschlossen worden war. Der Rottenburger Bischof war der letzte der deutschen Bischöfe gewesen, der seinen tiefen Widerwillen gegen dieses Dogma schließlich aufgegeben hatte. Als Weizsäcker ihn am Bahnhof in Tübingen abholte, war der Bahnsteig mit Glatteis überzogen. Da bot er dem Bischof seinen Arm als Stütze mit der Bemerkung an: »Es ist halt wegen der Hinfallibilität.« Bald darauf bekam er selbst einen Spiegel der Hinfälligkeit vorgehalten. Täglich pflegte er in Tübingen bei einer Bäckerei eine Laugenbrezel für drei Pfennige zu erwerben. Ein kleiner Bub verkaufte
sie ihm. Eines Tages fand er in seiner Tasche nur noch zwei Pfennige und fragte den Buben, ob er ihm die Brezel auch dafür geben würde. Darauf erhielt er zur Antwort, er könne den Pfennig ja morgen nachbringen. Aber was sei, fragte er zurück, wenn er es vergesse? Antwort: Das werde er schon nicht vergessen. »Aber wenn i heut nacht sterb?« Antwort des Buben: »Dann isch au net viel hin.«

    Mein Urgroßvater Carl Weizsäcker (1822-1899) war Theologe und Rektor der Universität Tübingen. Bekannt wurde er durch seine zwölfmal neu aufgelegte Übersetzung des Neuen Testaments. Mit seiner ganz undogmatischen Frömmigkeit erforschte er um des Glaubens willen historische Tatsachen und war ein ökumenischer Vorkämpfer für den konfessionellen Frieden.

    Mit dem Sohn des Theologen, meinem Großvater Karl, führte der Weg nun ganz in die Politik. Nach Teilnahme am Krieg 1870/71 als siebzehnjähriger Freiwilliger und nach juristischer Ausbildung arbeitete er als Richter und im Justizministerium. Bei der Einführung des deutschen Jahrhundertwerks im Zivilrecht, des Bürgerlichen Gesetzbuches, wirkte er maßgeblich mit, insbesondere durch Anpassung der Landesgesetze. Später wurde er, wie es in Württemberg damals noch so schön hieß, Kultminister, dann Staatsminister des Äußeren, bis er 1906 zum Württembergischen Ministerpräsidenten berufen wurde, was er bis zur Revolution 1918 blieb. Stets hielt er Distanz zu Bürokratie und Parteien. Seinem König blieb er lebenslang treu.
    Ich erinnere mich an seinen kleinen Wuchs und seinen spitzen Bauch, seine rasche und scharfe Zunge, seinen Witz und sein Wohlwollen. Als junger Amtsrichter hatte er es einmal mit der Scheidungsklage eines eifersüchtigen Ehemannes zu tun. Er fragte ihn: »Jetzt gucket se emol Ihre Frau an, glaubet se wirklich, daß mit dere einer durchgeht?« »Ha - noi«, war nach einigem Zögern die Antwort, und der Kläger nahm seinen Antrag zurück. Weizsäcker galt als klug, diplomatisch geschickt und temperamentvoll, bald sarkastisch, bald liebenswürdig, von ausgeprägtem Selbstbewußtsein und einem zumeist zurückgehaltenen, aber strengen Urteil. Sein Freund und Kollege Egelhaaf meinte, er habe die »eiserne Hand im Samthandschuh«. Ein anderer naher württembergischer Studienfreund, Kiderlen-Wächter, der spätere Außenstaatssekretär, nach heutigen Begriffen Außenminister des Reiches, nannte ihn wohlmeinend einfach Pascha. Niemand sprach ihm das bedeutende Gewicht ab.

    Mein Großvater Karl Weizsäcker hatte maßgeblich bei der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches mitgewirkt. Von 1906 bis 1918 war er Ministerpräsident der »Königlichen Republik Württemberg«, wie Kaiser Wilhelm II. sie wegen ihrer Liberalität nannte. Neben meinem kleinen, rundlichen, scharfsinnigen und witzigen Großvater (rechts) geht der württembergische Gesandte in Berlin, Varnbüler.

    Während seiner Leipziger Studienzeit lernte er die Tochter des aus
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