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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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als Bundespräsident persönlich dafür, daß Boehringer die deutsche Staatsangehörigkeit ehrenhalber zurückerhielt.
    Ende 1924 wurde mein Vater als zweiter Mann an die Gesandtschaft nach Kopenhagen versetzt. Das Hauptproblem für die Dänen waren die deutschen Nachbarn. Die Spannungen wurden aber mit Anstand und zumal bei den beiderseitigen Minderheiten auch mit ziemlichem Erfolg überwunden. Politisch erschien meinem Vater als das Wichtigste, dem für Deutschland so problematischen Ententekreis im Völkerbund einen stillen Verband der Neutralen gegenüberzustellen. Die menschlichen Qualitäten der Dänen taten der ganzen Familie wohl. Ihre Begabung zum Leben findet unter den europäischen Völkern kaum ihresgleichen.
    Auf der deutschen Petri-Schule in Kopenhagen lernte ich Lesen und Schreiben. Freilich konnte ich es wohl schon weitgehend von zu Hause her, wie ich überhaupt in meiner Kindheit immer wieder große Ausbildungsvorteile durch die liebevolle und konsequente geistige Förderung in der Familie, vor allem durch meine Mutter empfing. Zwar wurde mir praktisch nie bei den Hausaufgaben geholfen -auch das als Prinzip -, aber meine Wettbewerbsvorteile unter den Sechsjährigen an der Kopenhagener Schule wurden offenkundig, als ich zum Einstand den »Handschuh« von Schiller hersagte. In den späteren pädagogisch-politischen Auseinandersetzungen ist es mir nie schwer geworden, die krassen Probleme der familiär- und milieubedingten Ungleichheit der Chancen zu begreifen.
    In Kopenhagen hatte ich einen unbekannten Freund. Jeden Tag ritt ein älterer Herr die Straße entlang, auf der ich gerade spielte. Er machte mir hoch zu Roß einen gewaltigen Eindruck,
ich grüßte ihn ehrerbietig, er grüßte mit warmer Geste zurück, je länger, desto vertrauter. Ein Wort wurde nie gesprochen, bis ich eines Tages erfuhr, wer es war: der König von Dänemark, der in der friedlichen Welt jener Zeit jeden Nachmittag ganz allein ausritt.
    Ich hatte auch eine Freundin, die ich anbetete. Sie war die jüngste Tochter des damaligen deutschen Missionschefs und Vorgesetzten meines Vaters, Ulrich von Hassell, Schwiegersohn des Admirals von Tirpitz, später ein Mitverschwörer und Opfer der Tyrannei nach dem 20. Juli 1944. Mit ihr, seiner Tochter Fey, genannt Li, die damals wie ich zwischen sechs und sieben Jahre alt war, und mit unseren älteren Geschwistern wurden die schönsten Spiele gespielt, vor allem Scharaden. Li ist eine wunderbare Frau geworden, hat sich in Italien verheiratet und später ein eindrucksvolles persönliches Buch über die schwere Zeit des Widerstandes und ihrer Gestapohaft geschrieben. Ich bin noch immer stolz auf die Huld, die sie mir in unserem ABC-Schützenalter gewährte.
    Schon bald wurde mein Vater nach Berlin zurückgerufen, um die Genfer Abrüstungskonferenz vorzubereiten und um kurz darauf die Leitung des Völkerbundreferats im Auswärtigen Amt zu übernehmen, der damals wichtigsten politischen Aufgabe für die deutsche Außenpolitik. Damit begann für ihn eine Dauerreisezeit mit ständigem Ortswechsel zwischen Berlin und Genf. Von der Notwendigkeit des Völkerbundes war er ebenso überzeugt, wie er von der nahezu unlösbaren Aufgabe für die deutschen Delegationen beeindruckt war. Der Generalsekretär der Weltorganisation, Sir Eric Drummond, sagte ihm über die deutsche Stellung: »You are in the league, you are not of the league.« Die europäischen Siegermächte des ersten Weltkrieges beherrschten die Konferenzszene. Fortschritte zu gleichberechtigter Sicherheit und Frieden blieben stecken. Die Hoffnungen, die Deutschland auf die Briten setzte, erfüllten sich selten; das Vereinigte Königreich hielt sich im allgemeinen gerade dort
zurück, wo es am dringlichsten gebraucht worden wäre, nämlich zur Mäßigung Frankreichs. Das schlimmste aber war die Abstinenz der isolationistischen Amerikaner.
    In der deutschen Delegation arbeitete mein Vater während der Jahre 1927 bis 1932 an Modellen zur Kriegsverhütung und Abrüstung. Er verfaßte Memoranden für eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Die Matadore der großen Genfer Konferenzen waren freilich nicht die Diplomaten, sondern die parlamentarisch verantwortlichen Minister. Das Zusammenspiel der beiden so unterschiedlichen Denkweisen führte immer wieder zu Reibereien.
    Stets ist es die Aufgabe der Diplomatie, sorgfältig und öffentlich unbeobachtet die Fäden so lange zu knüpfen, bis ein Ergebnis in greifbare Nähe rückt. Doch immer wieder
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