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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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also ich armes Kind als Jüngster Abend für Abend zuerst ins Bett gehen mußte, dann hieß es: »Heute darfst Du einmal den Reigen eröffnen.« Alles, was wir mußten, »durften« wir.
    Gemäß den Stärken und Schwächen eines jeden Kindes und dem Altersunterschied von acht Jahren zwischen dem Ältesten und dem Jüngsten förderte die Mutter jeden nach seiner Weise und hielt doch die Familie eng zusammen. Der 1912 geborene Älteste, Carl Friedrich, ging in diesen Berliner Jahren alsbald aufs Abitur zu. An seiner hohen und frühen Begabung hatte es nie einen Zweifel gegeben. Schon als Elfjähriger hatte er astronomische Privatstudien unternommen und der anteilnehmenden Mutter bedeutet: »Wenn Du etwas nicht verstehst, kannst Du mich ruhig fragen.« Nicht nur um seines Altersvorsprungs willen war er eine Klasse für sich, von den Geschwistern neidlos bewundert, von mir freilich auch oft nachhaltig in seinen Kreisen gestört, weil ich legitimerweise das Spielen dem Philosophieren deutlich vorzog. Aber er war und blieb eine maßgebliche geistige Antriebskraft für uns alle.

    Zusammen mit meinem acht Jahre älteren Bruder Carl Friedrich im Berliner Johannesstift Anfang der achtziger Jahre. Zwischen uns der Berliner Bischof Martin Kruse.
    Meine Schwester Adelheid, vier Jahre älter als ich, hatte den Namen »Vernunftquelle«. Nie habe ich ihre Beteiligung an einem Streit erlebt. Vielmehr tröstete sie jeden, der dessen bedurfte,
und half auf stille und unbeobachtete Weise. Aus meiner damaligen Perspektive las freilich auch sie schon zu früh hingebungsvoll Hölderlin, Mörike und dergleichen, statt etwas Lustigeres zu unternehmen. Wenn ich wieder einmal lautstark gegen die lästige Geistigkeit der Älteren aufbegehrte, begütigte sie mich mit einem freundlichen Entgegenkommen und erklärte den anderen, das Haus habe Frieden, wenn es mir gutginge: Wie wahr! Mit ihrer feinen, vom Vater geerbten Zeichen- und Aquarellierkunst fand sie einen Ausdruck ihres Wesens und Empfindens, der sie durch das schwere Leben, das auf sie wartete, immer begleitete und beschützte. Das Aquarellieren wurde ihr zur zweiten Natur. Argumentiert sie im Gespräch, dann geschieht es nicht mit den scharfen Instrumenten des Holzschnittes, sondern mit dem Zauber zarter Wasserfarben, die aus tiefen Quellen entspringen. Eine Wohltat ist ihre Gabe, die Schwächen eines jeden Menschen zu übersehen und dafür seine guten Seiten als die maßgeblichen zu behandeln und zu entfalten, ihn dadurch zu verwandeln.
    Der mir im Alter nächste war mein Bruder Heinrich, 1917 geboren. Allen unterschiedlichen Anlagen zum Trotz war er meinem Herzen in der Kindheit am nächsten. Rasch wuchs er heran und wurde ein schmaler Hüne, furchtlos und voller Ideale. Auch wenn er sich bald lieber mit seinen Geschichtshelden befaßte als mit meinen Spielen, teilte er doch stets selbstlos einiges von seiner Zeit mit mir und ließ mich seine überlegenen Kräfte nicht spüren. In der bündischen Jugend fand er unter gleichgesinnten Jungen einen Kreis, dem er sich mit seiner Gabe zur Freundschaft und Treue und mit seinem ritterlichen Wesen voller Hingabe zuwandte. Als später die Überführung der Gruppe in die Hitlerjugend erzwungen werden sollte, löste sie sich auf.
    Als Jüngster mußte ich diesem gewichtigen Geschwisterkreis nun hinterherwachsen. Das weltweit verbreitete Gerücht, die Jüngsten hätten es »natürlich« am leichtesten, erfüllte mich stets mit der gebührenden Entrüstung. Ihnen fiele in den Schoß, wofür die Älteren noch kämpfen mußten? Nein, sie durften nur die abgetragenen Sachen der Älteren tragen, und wenn der Vater am Sonntag der Reihe nach fragte, wer sich aus freien Stücken seinem Spaziergang in den Grunewald anschließen wolle, hieß es, beim Jüngsten angelangt, der hätte selbstverständlich mitzugehen.

    Meine vier Jahre ältere Schwester Adelheid zu Eulenburg hatte vor dem Krieg nach Ostpreußen geheiratet. Wenige Jahre später verlor sie im Krieg sowohl ihren Mann als auch ihre Heimat. Zu Hause galt sie von Jugend auf als die »Vernunftquelle«, weil sie jedem auf stille Weise half, sich frei zu entfalten. Sie hat einen unbeugsamen Geist und ein fühlendes Herz.
    Also mußte man lernen, sich so energisch wie möglich zu behaupten. Die Mittel, die ich dazu ersann, veranlaßten meinen Vater, in mir das größte »Lümple« unter den vieren zu sehen. Ich
fürchte in der Tat, die Geschwister hatten dann doch unter meinen ungebetenen Wortmeldungen
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