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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen
Autoren: Friedrich Ani
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und die Kommissare aufforderte, sich die Bilder anzusehen, während sie nach einem Foto suchte.
    Sie tranken nichts. Auf dem Foto war ein bärtiger Mann mit Glatze, der ausdruckslos in die Kamera blickte. Es war ein kleines zerknittertes Bild in Schwarzweiß.
    »Wie alt ist das Foto?«, hatte Heuer gefragt.
    »Zwei, drei Jahre. Ein Schnappschuss. Andreas mag nicht fotografiert werden.«
    Bei der Beschreibung von ihm war die Frau in Verwirrung geraten. Das war normal. Selten war ein Angehöriger oder Freund in der Lage, die hervorstechendsten Eigenschaften einer ihm nahe stehenden Person klar wiederzugeben. Die meisten verhedderten sich schon bei der Beschreibung der Haar und Augenfarbe. Edith Leu hatte zunächst nicht einmal das genaue Alter von Andreas Binger gewusst. Er war fünfundfünfzig.
    »Er ist bei der Frau«, sagte Heuer nun. Und angelte ein Päckchen Salem aus den Tiefen seiner Daunenjacke.
    »Er ist mit ihr mitgegangen«, sagte Süden. Heuer zündete sich eine Zigarette an. Er steckte das kleine Feuerzeug und die grüne Packung wieder ein. Eine Bahn der Linie 27 bog um die Ecke und hielt direkt vor ihnen.
    »Trotzdem ist etwas anders«, sagte Süden. Und zog die Lederjacke an, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte.
    Sie setzten sich hintereinander auf einen Einzelplatz.
    »Was?«
    »Er ist mit der Frau mitgegangen. Warum ist er noch nicht zurück?«
    »Er verträgt was.«
    »Vielleicht«, sagte Tabor Süden. Verschränkte die Arme vor der Brust. Und drückte die Schulter ans Fenster. Draußen begann es zu nieseln. Und das Licht wurde schmutzig.
    »Vermisstenstelle, Epp.«
    »Den Herrn Süden hätt ich gern gesprochen.«
    »Der ist unterwegs, Sie können auch mit mir sprechen. Wie heißen Sie?«
    »Koberl, Erika.«
    »Grüß Gott, Frau Koberl.«
    »Ich wollt mich beim Herrn Süden bedanken, dass er mich gefunden hat.«
    »Wann hat er Sie gefunden?«
    »Vorgestern, am Samstag… Eigentlich hat er mich nicht persönlich gefunden… Meine Schwester hat mich… Aber der Herr Süden hat gewusst, wo ich bin. Dafür wollt ich mich bedanken.«
    »Ich richts ihm aus, Frau Koberl.«
    »Das wär mir wichtig.«

3
    I Menschen? Hm?«
    Ist der Geruch einer Stadt unveränderbar wie der eines Menschen? Hm? «
    »Halten Sie endlich die Klappe!«
    »Bleiben die Geräusche und das Treiben einer Stadt von der Kindheit bis ins Alter eines Bewohners dieselben?«
    »Wenn Sie jetzt nicht still sind, ruf ich die Stewardess!«
    »Frage: Gehört ein Mann, der in einer Stadt zur Welt gekommen ist, für immer zum Inventar? Kann man den Wind wieder erkennen und die Spiegelung des Himmels in einem Schaufenster, wenn man nach neun Jahren zurückkehrt?«
    »Ist mir so was von wurscht!«
    Dann sagte er nichts mehr. Bestellte noch ein Bier. Und gab sich seinen Gedanken hin. Die ihn bedrohten. Und ihm sein Schweigen unerträglich machten.
    Sind wir in einer magischen Umarmung? Hm? Kommt die uns vertraut vor? Und raubt sie uns gleichzeitig die Luft? Am Ort der ersten Sanftmut. Der ersten Furcht. Des ersten Staunens. Des ersten Schmerzes. Des ersten Wortes. Des ersten Gesanges. Nein.
    »Nein!«, schrie der Mann in sein Bierglas. Die Frau an der Kaffeemaschine des Flughafencafes drehte sich erschrocken zu ihm um. Und das ältere Ehepaar neben ihm bewarf ihn mit vor Verachtung triefenden Blicken.
    Niklas Schilff war betrunken. Im Flugzeug, kurz nach dem Start vom Los Angeles International, hatte er das erste Budweiser bestellt. Danach hatte er versucht, mit seinem Nebenmann ins Gespräch zu kommen. Sinnlos. Und sechzehn Stunden später taumelte er. Verwirrt vom Alkohol. Verstört von hundert Fragen. Doch das Bier und die zwei Bloody Marys waren nicht das wahre Problem.
    Sein wahres Problem war seine Anwesenheit. Sein bloßes Hiersein. Und die Gewissheit, er würde nicht mehr dahin zurückkehren können, woher er kam. Wo ich gelebt hab. Wo ich was wert war.
    »Wo ich gelebt hab und wo ich was wert war!«, sagte er laut zu dem älteren Ehepaar. Ohne es wahrzunehmen. Er nahm nur sich selber wahr und er hatte…
    »Vielleicht sollten Sie jetzt zahlen«, sagte die Bedienung.
    … hier nichts verloren. Hier nicht. Nirgends in der Stadt. In der Stadt, in der er nun tatsächlich wieder war. An diesem elften November.
    »Wie viel?«, fragte er das ältere Ehepaar.
    »Achtzehn vierzig, die Butterbreze ist mit drin«, sagte die Bedienung.
    »Ich hab keine Butterbreze gegessen«, sagte Niklas Schilff.
    »Natürlich«, sagte die ältere
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