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Verloren

Verloren

Titel: Verloren
Autoren: Kathryn Taylor
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zu sehen. Dafür entdecke ich erneut meinen abweisenden Retter. Er steht zusammen mit seiner Begleiterin vor einem der Fenster im hinteren Teil des Raumes bei einigen anderen Leuten und unterhält sich.
    Ich könnte mir einreden, dass er mir nur auffällt, weil ich gerade erst mit ihm zusammengetroffen bin. Aber das wäre gelogen. Ich hätte ihn sicher auch so bemerkt, schon weil er durch seine Größe und die dunkelblonden Haare aus der Menge heraussticht. Er ist einfach kein Typ, den man übersehen kann – und ich wette, das weiß er. Deshalb lächelt er schon wieder dieses lässig-entspannte Lächeln. Das er für mich nicht mehr übrig hatte, sobald er wusste, wer ich bin …
    »Sophie!«
    Die erfreute Stimme, die meinen Namen ruft, lässt mich herumfahren. Ein Mann um die Sechzig mit schulterlangen, graumelierten Haaren kommt auf mich zu. Er trägt zu seinem unauffälligen grauen Anzug wie immer einen sehr auffälligen Schal – heute einen aus dunkelroter Seide – und seine hellblauen Augen leuchten freundlich.
    »Andrew!«
    Ich bin unglaublich froh, ihn zu sehen, und erwidere erleichtert sein breites Lächeln, das sofort jeden meiner trüben Gedanken verfliegen lässt. So geht es mir oft in seiner Gegenwart, und nicht nur mir – Andrew Abbott ist neben seinem unbestrittenen Kunstverstand bekannt für seinen Humor und sein einnehmendes Wesen. Deshalb hat er einen wirklich großen Freundeskreis, zu dem mein Vater schon gehört, seit die beiden vor über dreißig Jahren gemeinsam in Oxford Kunstgeschichte studiert haben.
    Andrews Begrüßung fällt – für einen Briten – sehr überschwänglich aus, denn er küsst mich herzlich auf beide Wangen. Wahrscheinlich lebt er einfach schon zu lange in diesem Land und hat sich die körperbetonte Art der Italiener angewöhnt.
    »Du siehst bezaubernd aus«, sagt er dann und blickt bewundernd an mir herunter. »Tolles Kleid.«
    »Danke.« Sein Kompliment lässt mich strahlen, denn es nimmt mir zumindest einen Teil meiner Verunsicherung. Nicht, dass ich sonst immer auf Bewunderung aus wäre. Im Gegenteil. Obwohl ich weiß, dass ich mit meiner zierlichen Figur, meinen blaugrauen Augen und den langen schwarzen Haaren, die ich heute ausnahmsweise mal offen trage, ganz passabel aussehe, machen mich Bemerkungen über mein Äußeres meist eher verlegen. Vielleicht weil in meinem Leben so viele andere Dinge wichtiger sind als ich und meine Wirkung. Aber diesmal freut mich das Lob, sehr sogar, und ohne es zu wollen, gleitet mein Blick zurück zu dem großen dunkelblonden Mann, der für meinen verunsicherten Zustand verantwortlich ist.
    Da, wo er vorhin stand, ist er jedoch nicht mehr, und ich kann ihn auch nirgends entdecken, was mich ein bisschen enttäuscht. Ich hätte mich gerne erkundigt, wer er eigentlich ist.
    Andrew, der das bestimmt gewusst hätte, hakt sich bei mir ein. »Okay, beginnen wir mit der Vorstellungsrunde – versprochen ist versprochen«, sagt er, und während wir durch die Menge gehen, muss ich daran denken, dass er einer der ganz wenigen Menschen ist, die nach diesem Grundsatz leben. Was Andrew Abbott verspricht, das hält er auch, und diese Verlässlichkeit schätze ich sehr an ihm.
    Früher, als er noch in England wohnte, war er oft bei uns. Ich war damals noch klein und mochte seine Besuche, weil er mir stets mitbrachte, was ich mir beim Mal zuvor von ihm gewünscht hatte. Es waren nur Kleinigkeiten – ein Armband, eine Zopfspange oder eine bestimmte Sorte Schokolade –, aber er hatte versprochen, dran zu denken, und hat es nie vergessen, nicht ein einziges Mal.
    Deshalb habe ich mich immer an ihn erinnert, auch als er längst in Italien war und wir ihn kaum noch persönlich zu Gesicht bekamen. Aber er hielt trotzdem den Kontakt zu meinem Dad und war sofort bereit, uns zu helfen, als er erfuhr, dass wir unsere Geschäftstätigkeiten in Italien ausweiten wollen. Seitdem lässt er seine Beziehungen spielen, wenn ich selbst nicht weiterkomme, und wie es aussieht, stehen wir jetzt tatsächlich vor einem echten Durchbruch – wofür ich ihm dankbarer nicht sein könnte.
    »Und, wie ist das Hotel?«, will er wissen, während wir uns langsam einen Weg durch die Gruppen von Leuten bahnen, die zusammenstehen, Wein und Champagner trinken und reden. »Ist es bei den Binis immer noch so nett und gemütlich, wie ich es in Erinnerung habe?«
    »Oh ja«, versichere ich ihm. »Signora Bini ist die Beste, sie liest mir jeden Wunsch von den Augen ab, und ihr Mann kocht
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