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Verkehrte Welt

Verkehrte Welt

Titel: Verkehrte Welt
Autoren: Juergen von der Lippe
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stand. Gerda schrie wie am Spieß, ich schnappte mir den Sektkühler und leerte ihn mit Schwung über den Flammen aus. Wenige Minuten später saßen wir im hurtig eingedeckten Separee, der Geschäftsführer gab zu verstehen, dass wir seine Gäste seien, dass wäre ja wohl das Mindeste, nachdem ich verhindert hätte, dass sein Sternelokal ein Raub der Flammen wurde, und was wir denn essen wollten.
    »Bloß nichts Flambiertes«, beeilte ich mich zu sagen und genoss wenig später den vorzüglichen Hummer Thermidor, der auch mit dem Jahrgangschampagner aufs Possierlichste harmonierte.
    »Gar nicht schlecht für einen Neunjährigen, da gebe ich doch glatt eine Zwei«, dachte der Lehrer und nahm den nächsten Aufsatz zum Thema »Wie ich mir meinen späteren Berufsalltag vorstelle« vom Stapel.
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THEO, SCHWER
VERMITTELBAR
    Im Alter von 13 Jahren hatte Theo zum ersten Mal das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er kam vom Ballettunterricht nach Hause, sah seinen Vater vor einem Blatt Papier sitzen und fragte: »Was tust du, Papatschi?«
    »Nichts, ich schreibe nur etwas ins Unreine.« Damit stand der Vater auf, nahm das Blatt, knüllte es zusammen und steckte es in die Tasche. Wenig später verließ er das Haus.
    Theo war ein wenig sonderbar, aber nicht blöd. So wusste er, dass man eine Schrift, die sich auf ein als Unterlage dienendes Blatt durchgedrückt hatte, sichtbar machen kann, indem man mit Kohle oder schräg gehaltenem Bleistift darübergeht. Und so las er wenig später: »Aufgeweckter Dreizehnjähriger unentgeltlich an nervenstarke Pflegefamilie abzugeben.«
    Aha, es ist wieder so weit, dachte Theo, jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Er holte sich ein Alcopop aus dem Kühlschrank, ging auf sein Zimmer und drehte sich erst mal einen Joint. Nach einigen Zügen legte er sich aufs Bett und schaute auf den blühenden Kirschbaum vor seinem Fenster. Seit Mama in der Klinik ist, ist der Alte immer schlimmer geworden, dachte er, aber das liegt nur an ihm. Ich verhalte mich absolut korrekt, und er will den eigenen Sohn verscherbeln. Theo zog ein Schulheft unter dem Kopfkissen hervor und begann zu schreiben:
     
    »Liebe Mamatschi,
     
    Papatschi, oder Tollpapatschi, wie ich ihn heimlich nenne, hat heute sein wahres Gesicht gezeigt, die Fratze des Hasses auf seinen eigenen und vor allem Deinen geliebten Sohn. Er sucht eine Pflegefamilie für mich, also Leute, die so bescheuert sind wie er. Wahrscheinlich setzt er die Annonce in die Bäckerblume oder das Mitteilungsblatt seines Briefmarken-Vereins. Wir lesen in der Schule gerade die Sage von Ödipus, der seinen Vater erschlägt und seine Mutter heiratet. Ist das nicht ein Zufall? Aber mach Dir keine Sorgen, ich pass auf ihn auf, bis Du aus Deinen mentalen Ferien zurück bist.
     
    Bis bald, Dein Dich abgöttisch liebender Sohn Theo,
    der Dich sooooooo vermisst.«
     
    Theo riss die Seite aus dem Heft und adressierte einen Briefumschlag.
     
    Zur selben Zeit saß sein Vater in einem Café und schrieb:
     
    »Liebe Amelie,
     
    ich hoffe, es geht Dir den Umständen entsprechend gut. Bei uns läuft es nicht so toll, ich will Dich nicht unnötig beunruhigen, aber Dein Sohn entwickelt sich zu einem gewaltkriminellen, drogenabhängigen, schwulen Monster, was mit meiner Tätigkeit als evangelischer Bischof nicht wirklich harmoniert. Die Ärzte meinen, es dauert noch etliche Monate, bis Du wieder nach Hause kommst, so eine Schizophrenie, wo man plötzlich zu viert ist im Oberstübchen, das man vorher allein bewohnte, ist ja kein Pappenstiel. Ich dachte, ich parke Theo in einer Pflegefamilie, bis Du wieder auf dem Damm bist, wie findest Du das, oder besser gesagt, wie findet Ihr vier das? Die Alternative wäre ein Internat, aber ich habe ehrlich gesagt keine Lust, für Deinen Kotzbrocken drei große Zettel im Monat zu verbrennen.
     
    Haltet die acht Ohren steif, liebe Grüße, Euer Ernst«
     
    Theo nahm das Fahrrad, um noch vor der Leerung seinen Brief einzuwerfen. Von Weitem erkannte er seinen Vater auf dem Gehweg und lenkte das Rad kurz entschlossen hinter ein Bushaltestellenhäuschen. Unbemerkt beobachtete er, wie sein Vater einen Brief in den Postkasten warf, zum gegenüberliegenden Marktplatz ging, in ein Taxi stieg und davonfuhr.
    Theo wartete, bis das Postauto vorfuhr. Die Briefe fielen gerade in die Ledertasche des Servicemanns, da raste Theo in ihn hinein. Die
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