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Verkehrte Welt

Verkehrte Welt

Titel: Verkehrte Welt
Autoren: Juergen von der Lippe
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nun rechtschaffen beutelte, »es kommt doch nicht auf die Minute an, erzähl endlich!«
    »Mach dir doch nen Knoten rein, es war zehn vor vier, weil wir ja vorher Tee getrunken hatten«, fuhr Peter ungerührt fort, »und Marmorkuchen haben wir gegessen, und dann hat se se rausgeholt!«
    »Die Möpse?«, gellte es unisono.
    »Nein, die Fottos!«
    »Die Fottos von ihre Möpse?«
    »Immer langsam mit die jungen Ferde, erst mal die Bilder von sich als Schönheitskönigin, sie war nämlich 1958 Miss Nordrhein-Westfalen. Und da hat se mir die Bilder von gezeigt, einmal im Badeanzug, dann im Sportdress und im Abendkleid.«
    »Und die Möpse?«
    »Später, erst mal ham wer ein Likörchen dadrauf getrunken, dat ich in mein Seniorenstift ne echte Schönheitskönigin auffen selben Flur zu wohnen hab, und dann kam dat Beste …« Peters Stimme war jetzt nur noch ein schwer verständliches rasselndes Keuchen, sieben silberne Haarkränze rahmten ihn engstmöglich ein. »Dann hat se gesacht, so, Herr Foltinek, jetzt zeig ich ihnen die Bilder, weswegen die mir zwei Monate später den Miss-Titel wieder aberkannt haben. Und dann holt se ne Blechschachtel aus ihre Anrichte und gibt mir einen Stoß Fottos, und ich seh schon am obersten Bild, dat ich dat ohne meine Betablocker gar nich durchsteh, und sacht: Ich muss nur mal schnell für kleine Mädchen, wenn Sie mich einen Moment entschuldigen würden . und da hab ich mir natürlich schnell die drei schönsten Fottos geschnappt und … sacht ma, riecht ihr dat auch? Ich mein, dat röch ganz doll nach Pipi, wo einer vorher Spargel gegessen hat, und et is ja auch Spargelzeit!«
    Acht violett geäderte Riechkolben zogen die Luft ein.
    »Stimmt, getz riech ich et auch!« Alle bestätigten Peters olfaktorische Analyse, bis auf Willi, auf den sich nun alle Blicke richteten. Willi schien in Trance verfallen, 1958, murmelte er immer wieder und starrte mit aufgerissenen Augen ins Leere.
    »Elsie! Großer Gott! Meine Elsie!« Abrupt stand er auf, wirkte stocknüchtern und sagte in einem Tonfall, der den Oberleutnant a. D. erkennen ließ: »Gib mir sofort die Fottos, Peter.«
    »Wie kommst du mir denn vor, dat is Kriegsbeute, wie hat der Assauer immer gesacht: nur gucken, nich anfassen!«
    Aber mit einer Bewegung, der auch das Auge viel jüngerer Menschen nicht hätte folgen können, entriss Willi Peter die Bilder, um nach einem weiteren langen Blick aufschluchzend über ihnen zusammenzubrechen.
    Viele Biere und Schnäpse später hatten sie dann die ganze Geschichte aus dem immer wieder flennenden Stammtischbruder herausgeholt.
    1950, da war Willi 14, hatten seine Eltern die damals 15-jährige Elsie und ihre kranke Mutter, beide Flüchtlinge aus Ostpreußen, als Untermieter aufgenommen. Elsies Mutter hielt sich und ihre Tochter durch Putzen und Nähen über Wasser, bis sie an einer viel zu spät erkannten TBC starb. Willis Eltern nahmen die Vollwaise an Kindes statt an, schickten sie sogar aufs Gymnasium, denn ihre musische wie auch sprachliche Begabung waren offenkundig. Elsie und Willi verliebten sich ineinander, Elsie wurde schwanger, Willis Eltern zwangen sie zur Abtreibung, Elsie ging dann ins Kloster, von dort in die Mission nach Afrika, wo sie zufällig von einem Filmproduzenten entdeckt wurde, der die schöne Braut Jesu wieder in die Welt zurückholte, sozusagen resäkularisierte. Willi wäre fast an gebrochenem Herz gestorben, behielt aber neben den Narben auf der Seele eine psychosomatische Inkontinenz zurück, d. h., wann immer er sich aufregte, wurden die efferenten Nervenimpulse zum Musculus detrusor, das ist die für die Entleerung zuständige Harnblasenmuskulatur, enthemmt, und die Dinge nahmen ihren Lauf, so wie auch heute wieder.
    Alle waren sichtlich bewegt, Willi erntete neben weiteren Schnäpsen viel Zuspruch wie: »Arme Sau, ham wir ja gar nich gewusst, wat du da all die Jahre mit dir rumschlepps, mal nen Ton sagen können, wozu hat man Freunde, da gibbet doch Windeln für, oder?«
    Irgendwann schrie Liesel: »Feierabend, letzte Bestellung und zahlen die Herren!« Theo, der Vorsitzende, ergriff das Wort. »Paul und Peter werden kostentechnisch freigestellt, Paul hatte eine anerkannte Möpsestory, Peter hatte Möpsefottos, dat lass ich gelten, aber wat is mit Willi und seiner traurigen Geschichte? Et kamen ja zumindest Möpse im weiteren Sinne vor, wenn auch in der weiter zurückliegenden und nicht in der jüngsten Vergangenheit, mit anderen Worten, wer is dafür, dat Willi
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