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Vergissmichnicht

Vergissmichnicht

Titel: Vergissmichnicht
Autoren: Eva-Maria Bast
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des alltäglichen Lebens, die ihn seit Jahren, teils seit Jahrzehnten begleitet hatten. Er hatte nicht die geringste Lust, sie aufzubauen und auszupacken. Ebenso wenig Lust hatte er, hier in diesem Kaff zu bleiben, diesem Überlingen. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, als er ausgerechnet einen Versetzungsantrag an den Bodensee gestellt hatte? Ein komplett neues Bundesland, ein komplett neues Kollegium, ein komplett neues Leben. Am anderen Ende Deutschlands, das, so schien es ihm in seiner einsamen Trübsal, zugleich das Ende der Welt war.
    Ole Strobehn kam aus der Metropole Hamburg. Hier war er geboren, hier hatte er laufen gelernt, hier war er zur Schule gegangen. Er hatte diese Stadt geliebt. Bis zu jenem schrecklichen Einsatz vor einem halben Jahr. Ein Banküberfall war es gewesen. Es hatte Tote gegeben – auch er hatte getötet. Er hatte auf den Bankräuber geschossen, bevor dieser noch weitere Menschen umbringen konnte. Aber das Kind hatte er nicht retten können. Und auch nicht den alten Mann, der den Bankräuber auf Knien um sein Leben angebettelt hatte. So schrecklich hatte er geklagt und gefleht. Ole klang seine Stimme noch heute in den Ohren. Doch noch lauter, alles übertönend, gellten die Schreie und das Klagen der Mutter, als er ihr vom Tod ihres Kindes, das stolz zum ersten Mal alleine in die Bank gegangen war, um den Inhalt seines Sparschweins dorthin zu bringen, berichtet hatte.
    Ole war damit nicht fertig geworden. Nicht mit dem Tod des Kindes, den er hätte verhindern können, wenn er nur etwas schneller reagiert hätte. Nicht mit dem Tod des alten Mannes und auch nicht damit, dass er selbst einen Menschen erschossen hatte. Wochenlang hatten seine Hände gezittert und die Schießübungen, denen er sich unterziehen musste, waren ein Albtraum gewesen. Er hatte schlecht geschlafen, war nachts schreiend aufgewacht, hatte nicht mehr essen und nicht mehr trinken können, ohne dass sich ihm der Magen umdrehte. Wann immer er durch die Stadt ging, zog es ihn zu der Stelle, an der es geschehen war. Und auch seine Beziehung war daran zerbrochen. Anna hatte ihm anfangs noch zur Seite gestanden, doch als Ole sich immer mehr zurückzog, hatte sie es aufgegeben. Mit ihren 22 Jahren war Anna ganze zehn Jahre jünger als er und sie wollte Spaß haben. Sie, die ihr Leben bisher in einem kleinen Dorf in Sachsen verbracht hatte, wollte Hamburg kennenlernen, Party machen und gelegentlich an die Uni gehen, um zu lernen. Sie befand sich in einem ganz anderen Lebensabschnitt als er und als sie ihn verließ, hatte Ole es ihr nicht übel genommen. Insgeheim war er sogar froh gewesen, denn er hatte selbst längst einen Schlussstrich ziehen wollen, sich aber nicht dazu aufraffen können. Seit dem Banküberfall war alles anders. Ihre Lebensfreude, die ihn früher so fasziniert hatte, erlebte er nun als oberflächlich, ihr ständiges begeistertes Plappern als unerträglich naiv.
    Seine älteren Kollegen und auch die Psychologen hatten gesagt, es würde besser werden, mit der Zeit. Aber es wurde nicht besser. Und als Ole es nicht mehr aushielt, stellte er den Versetzungsantrag, der genehmigt wurde. Wenn der Polizeichef auch sein großes Bedauern über Oles Weggang ausdrückte. Ole wusste, dass er es ehrlich meinte.
    Und nun war er also hier. Vor einer Woche hatte er seine Wohnung bezogen, die auch wirklich schön war. Es war eine Dreizimmer-Altbauwohnung mit Blick über Überlingens Dächer. Mitten in der Stadt, zu Fuß waren es fünf Minuten zum Überlinger Polizeirevier. Aber der Rest gefiel ihm nicht. So hübsch Überlingen auch sein mochte, im Vergleich zu Hamburg erschien es ihm unerträglich klein und eng und er vermisste auch die frische Brise seiner Heimatstadt. Außerdem verstand er den Dialekt der Einheimischen nicht. Und sie verstanden ihn auch nicht. Heute Morgen hatte er beim Bäcker ein Rundstück kaufen wollen und die Verkäuferin hatte ihn angestarrt, als käme er vom Mars. » Wa wendSie?«, hatte sie gefragt und es klang wie eine Drohung. »Ein Rundstück«, hatte Ole tapfer beharrt und auf die hellen Brötchen gedeutet, die hinter der Theke in großen Körben darauf warteten, gekauft zu werden. Die Bäckerin hatte sich umgedreht, dann war ein Strahlen über ihr bisher so verständnislos blickendes, kugelrundes Gesicht geglitten und sie hatte triumphierend eben eines jener Rundstücke in die Höhe gehalten, die Ole Strobehn so begehrte. Ihre Worte hatte er allerdings nicht verstanden. »Monet Se en Wegge!
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