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Vergesst Auschwitz!: Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage (German Edition)

Vergesst Auschwitz!: Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage (German Edition)

Titel: Vergesst Auschwitz!: Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage (German Edition)
Autoren: Henryk M. Broder
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Tür nicht geöffnet habe. Der Artikel in der »Allgemeinen« sei »eine offene Denunziation, eine Aufforderung an die Justiz«, etwas, das man »nicht mit Schweigen übergehen« könne. Also sprach »konkret«-Herausgeber Klaus Rainer Röhl: »Vorbild dieser Zeitschrift waren und sind die Weltbühne Ossietzkys und sein wichtigster Autor Tucholsky. Zu den Autoren der ersten Stunde gehören … Kurt Hiller und viele andere jüdische Schriftsteller und Publizisten, Opfer des Faschismus und Gegner der Faschisten: Robert Neumann und Erich Fried, der Ostberliner Anwalt Friedrich Karl Kaul ebenso wie der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, Ludwig Marcuse und Hermann Kesten, ebenso wie die Hamburger Freunde Peggy Parnass und Eberhard Zamory, Mitstreiter der frühen Jahre …«
    Es gehört zu den Ritualen des Antisemitismus, dass seine Subjekte, sobald man sie mit beiden Armen bis zu den Ellbogen im Mustopf ihrer Aufwallungen erwischt, sofort anfangen, ihre »jüdischen Freunde« aufzuzählen. Eine Verteidigungsstrategie, wie sie idiotischer nicht sein könnte, geradezu ein Beweis, dass der Vorwurf berechtigt ist. Erstens haben sie ihre Umwelt bereits in Juden und Nichtjuden eingeteilt, was eine Lieblingsbeschäftigung der Antisemiten ist, zweitens übersehen sie, dass auch Juden Antisemiten sein können, wofür die Geschichte und die Literatur genügend Beispiele bieten: von Karl Marx bis Otto Weininger früher, von Norman Finkelstein bis Gerard Menuhin heute. Ihre öffentliche Existenz verdanken sie vor allem dem Umstand, dass sie jüdische Antisemiten sind, wogegen im Prinzip nichts zu sagen ist – denn der Antisemitismus ist eine Krankheit, die jeden befallen kann, unabhängig von sozialer Herkunft, Bildungsstand, nationaler, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit. Die Welt ist voller Matrosen, die seekrank werden, und Moralhüter, die sich an Kindern vergreifen.
    Das Problem mit dem Antisemitismus ist, dass es für ihn keine Maßeinheit gibt, keinen Ur-Meter, an dem man ihn messen könnte. Natürlich kann man von »gemäßigten« und von »radikalen« Antisemiten sprechen (so wie man mittlerweile zwischen gemäßigten und radikalen Islamisten unterscheidet). Die liberalen klassischen Antisemiten wollten die Juden nur aus dem gesellschaftlichen Leben entfernen und sie irgendwohin ausschaffen, die radikalen klassischen Antisemiten wollten sie gleich ermorden. In der Praxis trägt diese Unterscheidung aber nicht wesentlich zur Klärung der Begriffe bei.
    Denn um sicherzugehen, dass die Juden nicht zurückkommen und sich wieder in der Volksgemeinschaft festsetzen, musste man sie umbringen, auch die Kinder und die Ungeborenen. Als radikaler Antisemit beziehungsweise Antizionist gilt heute jemand, der Israel als ein Krebsgeschwür bezeichnet, das entfernt werden muss. Ein gemäßigter Antisemit bzw. Antizionist ist einer, der den Nahostkonflikt »gewaltfrei« lösen möchte, indem er vorschlägt, die Juden/Israelis sollten dahin zurückgehen, woher sie gekommen sind: nach Russland, Polen, Deutschland, Österreich, Ungarn und Hawaii.
    Weil es also keinen Antisemitismus-Ur-Meter gibt, steht es jedermann und jederfrau frei, den Begriff nach eigenem Gusto und Bedarf zu definieren. Die Deutschen haben Glück gehabt, die Geschichte hat ihnen den Maßstab ins Haus geliefert: Auschwitz und der Holocaust. Deswegen rufen sie »Nie wieder!« und »Wehret den Anfängen!«, bauen monströse Mahnmale und gedenken jedes Jahr am 27. Januar der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee. Es sei unsere gemeinsame Pflicht, sagen dann die Festredner, dafür zu sorgen, dass sich so etwas Schreckliches nie mehr wiederholt. Doch kaum haben die Redner ihre Manuskripte wieder eingesteckt und die Musiker ihre Instrumente eingepackt, geht es mit der Routine weiter. Man empfängt Vertreter der iranischen Regierung und der iranischen Wirtschaft und verhandelt mit ihnen über einen Ausbau der Beziehungen, wohl wissend, dass die iranische Atompolitik nicht nur Israel, sondern den ganzen Nahen und Mittleren Osten bedroht. Die Deutschen sind dermaßen damit beschäftigt, den letzten Holocaust nachträglich zu verhindern, dass sie den nächsten billigend in Kauf nehmen. Man kann sich ja nicht um alles gleichzeitig kümmern, man muss Prioritäten setzen. Das »Nie wieder!« bezieht sich auf 1933, »Wehret den Anfängen!« meint die »Machtergreifung« durch die Nazis. Zugleich sind die Deutschen sehr stolz darauf, dass sie, im Gegensatz zu den
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