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Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Don Winslow
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Einsätze so »präsent« wie möglich zu sein. Diana hatte mit ihrem Smartphone mitgefilmt, so dass er wenigstens ein paar von Jakes Fußballspielen hatte sehen können, und auch als Jake in der zweiten Klasse einen Preis gewann, war sie mit der Kamera dabei gewesen. Einmal an Weihnachten hatte Dave Jake über Skype beim Geschenkeauspacken zugesehen. Als Jake klein war und es die ganze Technik noch nicht gab, hatte Dave immer, bevor er zu einem Einsatz fuhr, Gutenachtgeschichten für ihn aufgenommen, damit er Jake vor dem Einschlafen noch etwas »vorlesen« konnte.
    Jetzt will er auf keinen Fall noch mehr verpassen. Trotz seines anspruchsvollen Jobs als Federal Security Officer am Kennedy-Airport kommt er meist zum Essen nach Hause, hilft bei den Hausaufgaben und ist einfach da.
    Eines Abends im Wohnzimmer, als im Hintergrund die Nachrichten liefen, kam ein Beitrag über Afghanistan. Dave achtete nicht darauf, aber Jake anscheinend schon, denn er blickte vom Boden aus zu ihm auf und fragte: »Daddy hast du das auch gemacht?«
    »Was?«
    »Menschen getötet?«
    Einen Augenblick lang war Dave sprachlos. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass Jake tatsächlich schon verstand, was für einen Beruf sein Vater ausübte. Oder dass es ihn überhaupt interessierte. Er zögerte, dann beschloss er, ihm die Wahrheit zu sagen. »Ich habe für unser Land gekämpft, Jake. Um die Menschen hier zu beschützen. Und manchmal musste ich dafür auch jemanden töten. Das war nicht schön, aber manchmal war es notwendig.«
    Jake sah ihn eine Sekunde lang an, dann fragte er: »Aber du hast doch nur die Bösen umgebracht, oder?«
    »Nur die Bösen.«
    Allem Anschein nach zufrieden widmete sich Jake wieder seinen Mathehausaufgaben, aber manchmal fragt sich Dave, ob es den Jungen noch beschäftigte und er lieber mit ihm darüber sprechen oder das Thema doch besser ruhen lassen sollte.
    Jetzt beugt sich Dave zu ihm hinunter und flüstert ihm leise ins Ohr: »Zeit aufzustehen, mein Sohn.«
    Jake schlägt die Augen auf, er blickt auf die Uhr auf dem Nachttisch und springt aus dem Bett.
    »Wir kommen zu spät!«, schreit er und wirft sich in seine Klamotten. Sein Koffer ist längst gepackt und steht am Fußende des Bettes zur Abreise bereit. »Wir verpassen noch das Flugzeug!«
    »Das schaffen wir, Jake«, versichert ihm Dave. »Wir dürfen bloß nicht mehr trödeln.«
    Um Jake muss sich Dave keine Sorgen machen, er schlüpft bereits in die Schuhe und rennt aus dem Zimmer, die Treppe runter in die Küche. Am Vorabend hatte er eine Schüssel mit löslichen Haferflocken bereitgestellt, und noch bevor Dave wieder im Schlafzimmer ist, hört er schon die Mikrowelle unten brummen.
    Dianas Eltern leben in Montana, und in diesem Jahr sind sie mit Weihnachten dran. Als FSO am Kennedy-Airport kann sich Dave an Heiligabend erst nachmittags freinehmen, und auch das nur, wenn er Glück hat, denn er muss erst dafür sorgen, dass alle anderen Familien sicher nach Hause kommen, bevor er zu seiner eigenen fahren darf.
    Das ist nicht bloß seine Aufgabe, es ist seine Pflicht.
    Inzwischen trägt er zwar Zivilkleidung, aber seine Pflichten nimmt Dave Collins immer noch sehr ernst. Wenn er alles getan hat, was zu tun ist, fliegt er seiner Familie mit der nächsten Maschine nach Bozeman hinterher.
    Diana steht vor dem Badezimmerspiegel und schminkt sich.
    Dave zieht seinen schwarzen Hugo-Boss-Anzug an. Diana hatte ihn überredet, ihn zu kaufen, als er den Job am Flughafen antrat.
    »Ist Jake schon auf?«, fragt Diana.
    »Wahrscheinlich ist er längst draußen und lässt den Wagen an.«
    Diana schmunzelt. »Ganz der Vater.«
    »Er ist ein bisschen aufgeregt.«
    »Ein bisschen?«
    Jake ist nie nur »ein bisschen« irgendwas. Ihr Sohn ist einwahrer Enthusiast, der sich über ein paar Kugeln Eis genauso freuen kann wie über ein großes neues Spielzeug.
    Diana weiß genau, in welchem Moment er gezeugt wurde.
    Dave hatte plötzlich und ganz unerwartet frei bekommen, und sie war nach Miami geflogen, um ihn dort zu treffen. Sie wusste nicht einmal, woher er kommen würde, er hatte es ihr nicht gesagt. Aber sie war sehr aufgeregt, ihn zu sehen, freute sich auf ein romantisches Wochenende in South Beach mit ihrem Mann.
    Nur dass es nicht romantisch wurde.
    Dave war angespannt, unruhig und schlecht gelaunt.
    Seine Haare waren lang, und er hatte einen Bart, weshalb sie nicht unbedingt Sherlock Holmes sein musste, um sich denken zu können, dass er aus Afghanistan kam. Und er
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