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Verderbnis

Titel: Verderbnis
Autoren: Mo Hayder
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sich ab. Sie presste den Handrücken an die Nase; ihre Brust hob und senkte sich.
    Die Leiche war noch da. Sie konnte sie riechen. Der bittere, durchdringende Gestank der Verwesung sagte ihr alles, was sie wissen musste. Er war überwältigend, aber schwächer als zuvor, und das bedeutete, dass der Leichnam tat, was er sollte. Im Sommer war der Geruch übel gewesen, wirklich übel. An manchen Tagen hatte sie ihn schon unten auf dem Pfad gerochen, wo jeder zufällig Vorüberkommende ihn bemerkt hätte. In diesem Stadium war es besser. Viel besser. Es bedeutete, dass die tote Frau allmählich verweste.
    Der schmale Spalt, in den Flea die Nase gehalten hatte, schlängelte sich weit in die Felswand hinein. Tief unten, fast acht Meter unter ihr, befand sich eine Höhle. Sie hatte nur einen Eingang, und der lag unter Wasser. Ohne eine spezielle Taucherausrüstung und umfassende Kenntnisse des Steinbruchgeländes war es praktisch unmöglich, ihn zu finden. Aber sie hatte es getan, war hinuntergetaucht und in die Höhle vorgedrungen – zweimal in den letzten sechs Monaten, seit die Leiche dort lag, nur um sich zu vergewissern, dass niemand sie gefunden hatte. Jetzt steckte sie eingezwängt in einem Loch im Boden, mit Steinen bedeckt. Niemand würde wissen, dass sie dort war. Der einzige Hinweis auf das, was Flea getan hatte, war der unverkennbare Gestank, der sich durch das natürliche Ventilationssystem der Höhle, durch unsichtbare Spalten schlängelte und hier, hoch oben auf der Felswand, ins Freie gelangte.
    Ein Geräusch drang von der anderen Seite des Steinbruchs herauf. Das Sicherheitstor wurde geöffnet. Flea breitete Arme und Beine aus und glitt schnell nach unten. Sie schürfte sich die Knie auf, und über ihren Parka zog sich vorn ein langer, orangefarbener Strich aus Steinstaub. Am Fuß der Felswand ging sie in die Hocke und lauschte in den Steinbruch hinaus. Im Rauschen von Wind und Regen konnte sie nicht ganz sicher sein, aber ihr war, als hörte sie ein Auto.
    Langsam schlich sie sich bis zur Ecke, schob den Kopf um den Fels und riss ihn gleich wieder zurück.
    Ein Auto. Mit eingeschalteten Scheinwerfern fuhr es langsam durch den Regen vom Tor heran. Sie befürchtete Schlimmes. Wieder spähte sie vorsichtig um den nassen Fels herum. Ja. Es war ein Polizeiwagen.
    Was jetzt, Klugscheißer?
    Hastig entledigte sie sich des Kletterbeutels, der Knieschützer und Handschuhe. Die Klemmgeräte weiter oben an der Felswand konnte sie nicht erreichen, aber die, an die sie herankam, löste sie rasch und stopfte sie zusammen mit den anderen Sachen zwischen den Ginster zu ihren Füßen. Sie ging in die Hocke und bewegte sich im Krebsgang, geschützt von den Ginsterbüschen, seitwärts bis zu einem anderen Felsen, wo sie sich aufrichten und um die Ecke schielen konnte.
    Der Polizeiwagen hatte auf der anderen Seite des Steinbruchs angehalten, wo die Zementfabrik das Abraummaterial auf Halden gekippt hatte. Seine Scheinwerfer waren schlammbespritzt. Vielleicht wollte der Polizist hier pinkeln. Oder telefonieren. Oder ein Sandwich essen. Jedenfalls stellte er den Motor ab, ließ das Seitenfenster herunter und streckte den Kopf heraus. Er blickte in den Regen hinauf, beugte sich anschließend über den Beifahrersitz und suchte etwas.
    Ein Sandwich? Mach, dass es ein Sandwich ist, lieber Gott. Oder ein Telefon?
    Nein. Es war eine Taschenlampe. Scheiße.
    Er öffnete die Wagentür. Regen und Wolken hatten das Tageslicht so weit geschluckt, dass der Strahl der Lampe stark genug war, um die Regentropfen aufleuchten zu lassen. Der Lichtstrahl blitzte auf dem Wagen, als der Mann sich eine Regenjacke überzog, und flackerte dann über die Bäume am Rand des Wegs. Der Polizist schlug die Wagentür zu, ging ans Wasser und ließ das Licht der Taschenlampe über die Oberfläche wandern. Das Wasser brodelte im prasselnden Regen, als würde es kochen. Jenseits des Tors, weiter oben am Weg, war einer der Äste, mit denen sie ihr Auto getarnt hatte, weggezogen worden. Der Polizist wusste, dass jemand hier war.
    Mit anderen Worten, dachte Flea, du steckst bis zum Hals in der sprichwörtlichen Substanz.
    Er drehte sich unvermittelt um, als hätte er ein Geräusch gehört, und richtete seine Lampe auf die Stelle, an der sie stand. Sie zog sich in den Schatten des Felsens zurück und drehte sich zur Seite. Der Wind trieb ihr die Tränen in die Augen, und ihr Herz hämmerte. Der Polizist tat ein paar Schritte. Eins, zwei, drei, vier. Dann
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