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Verderbnis

Titel: Verderbnis
Autoren: Mo Hayder
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an. Wieder wurde er gemustert. Wieder wollte jemand wissen, was, zum Teufel, er vorhatte.
    Vor einem niedrigen Tisch blieb er stehen. Etwa zwanzig Fotos lagen dort ausgebreitet. Sie stammten aus einem Album, und in ihrer Hast hatte die Familie die Klebeecken mit herausgerissen. Martha war klein und blass, und ihr weißblondes Haar war zu einer Ponyfrisur geschnitten. Sie trug eine Brille – eine, für die ein Kind gehänselt wurde. Eine weitverbreitete Meinung in Ermittlerkreisen besagte, dass eines der wichtigsten Dinge bei der Suche nach einem vermissten Kind darin bestehe, das richtige Foto für diese Suche auszuwählen. Es müsse im Sinn einer schnellen Identifizierung charakteristisch sein, aber das Kind auch sympathisch machen. Mit der Fingerspitze schob er die Bilder hin und her. Es waren Schulfotos, Ferienfotos, Geburtstagspartyfotos. Bei einem hielt er inne. Martha trug ein melonenfarbenes T-Shirt, und ihr Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr Gesicht umrahmten. Der Himmel hinter ihr war blau, und in der Ferne sah man baumbewachsene Hügel. Der Aussicht nach hatte man es draußen in einem Garten der Siedlung aufgenommen. Er drehte es herum, damit die Familienbetreuerin es betrachten konnte. »Haben Sie das hier ausgesucht?«
    Sie nickte. »Ich habe es an die Presseabteilung gemailt. Ist es das Richtige?«
    »Ich hätte es auch genommen.«
    »Möchten Sie jetzt zu ihnen?«
    Er seufzte. Beäugte die Tür, auf die sie deutete. Was er jetzt tun musste, hasste er. Es war, als stünde er vor der Tür zu einem Löwenkäfig. Im Umgang mit den Opfern wusste er nie, wie er das richtige Gleichgewicht zwischen Professionalität und Mitgefühl finden sollte. »Na, kommen Sie. Bringen wir’s hinter uns.«
    Er trat in die Küche, und die drei Mitglieder der Familie Bradley hörten sofort auf mit dem, was sie gerade machten, und sahen ihm erwartungsvoll entgegen. »Nichts Neues.« Er hob beide Hände. »Ich habe nichts Neues.«
    Sie atmeten unisono aus und sanken wieder in ihre kläglich gebeugte Haltung zurück. Im Geist glich er sie mit den Informationen ab, die er auf dem Revier Frome bekommen hatte: Da an der Spüle stand Reverend Jonathan Bradley, Mitte fünfzig, groß und mit dunkelblondem Haar, das dicht und wellig über der hohen Stirn nach hinten gekämmt war. Er hatte eine breite, gerade Nase, die über einem weißen Stehkragen genauso selbstbewusst aussehen würde, wie sie es über dem traubenblauen Sweatshirt und der Jeans tat, die er jetzt trug. Unter der Abbildung einer Harfe auf der Brust des Sweatshirts stand das Wort »Iona«.
    Philippa, die ältere Tochter der Bradleys, saß am Tisch. Sie war der Inbegriff des rebellischen Teenagers mit ihrem Nasenring und den schwarz gefärbten Haaren. Im wirklichen Leben würde sie sich hinten im Zimmer auf dem Sofa fläzen, ein Bein über die Armlehne gelegt, einen Finger im Mund, und ausdruckslos auf den Fernseher starren. Aber das tat sie nicht. Sie saß da, die Hände zwischen die Knie geklemmt, mit hochgezogenen Schultern und einem verstörten Gesichtsausdruck.
    Und da war Rose, ebenfalls am Tisch. Als sie das Haus am Morgen verlassen hatte, musste sie ausgesehen haben wie eine Frau auf dem Weg zur Gemeinderatssitzung, mit Perlen und gut frisiertem Haar. Aber ein Gesicht konnte sich innerhalb von Stunden schrecklich verändern, das wusste er aus Erfahrung, und jetzt sah Rose in ihrer farblosen Strickjacke und dem Polyesterkleid aus, als wäre sie schon halb in der Klapsmühle. Ihr dünnes blondes Haar klebte feucht am Kopf. Sie hatte rötliche Schwellungen unter den Augen und ein Krankenhauspflaster auf einer Seite des Gesichts. Außerdem hatte sie Beruhigungsmittel bekommen; das sah er an der unnatürlichen Schlaffheit ihres Mundes. Zu dumm, er hätte sie gern bei klarem Verstand gehabt.
    »Wir sind froh, dass Sie hier sind.« Jonathan Bradley versuchte zu lächeln. Er kam herüber und berührte Cafferys Arm. »Setzen Sie sich. Ich gieße Ihnen einen Tee ein – wir haben eine Kanne fertig.«
    Die Küche wirkte abgewohnt wie der Rest des Hauses, aber es war warm hier. Auf dem Fenstersims über der Spüle stand eine Reihe von Geburtstagskarten. Ein kleines Regalbord neben der Tür war voll von Geschenkpäckchen. Eine Torte auf einem Abkühlgitter wartete auf den Zuckerguss. Mitten auf dem Tisch lagen drei Handys, als hätte die Familie sie dort nebeneinander aufgereiht, weil eins davon jeden Augenblick klingeln könnte. Caffery wählte einen Stuhl Rose
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