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Verborgene Muster

Titel: Verborgene Muster
Autoren: Ian Rankin
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ihn auf ewig verfolgen würde.
Während er die Treppe hinabstieg in das Herz der Bibliothek, erinnerte ihn der Geruch daran, wie
es war, mitten in der Nacht mit einem Wasserschlauch kalt abgespritzt zu werden, wie es war,
jemandem die Waffe gewaltsam zu entreißen, erinnerte ihn an einsame Märsche, an Waschhäuser, an
diesen ganzen Alptraum. Er konnte plötzlich Farben und Geräusche und Empfindungen riechen. Es gab
ein Wort für dieses Gefühl, aber es fiel ihm im Augenblick nicht ein.
Um sich zu beruhigen, zählte er die Stufen nach unten. Zwölf Stufen, dann um eine Ecke, dann noch
mal zwölf. Er landete vor einer Glastür mit einem kleinen Bild - ein Teddybär mit einem
Springseil. Der Bär lachte über irgendwas. Rebus kam es so vor, als lächelte er ihn an. Es war
kein angenehmes Lächeln, eher ein selbstgefälliges Grinsen. Komm herein, komm herein, wer auch
immer du bist. Er versuchte in den Raum hineinzusehen. Es war niemand da, keine Menschenseele.
Ganz leise schob er die Tür auf. Keine Kinder, keine Bibliothekarinnen. Aber er konnte hören, wie
jemand Bücher in ein Regal ordnete. Das Geräusch kam von der Rückseite einer Trennwand hinter der
Ausleihtheke. Rebus schlich auf Zehenspitzen zu der Theke und drückte auf die dort angebrachte
Klingel.
Hinter der Trennwand kam, summend und unsichtbare Staubflocken von den Händen reibend, ein
älterer, rundlicher gewordener Gordon Reeve lächelnd hervor. Er sah selbst ein bisschen wie ein
Teddybär aus. Rebus' Hände umklammerten den Rand der Theke.
Gordon Reeve hörte auf zu summen, als er Rebus sah, doch das Lächeln behielt seine täuschende
Wirkung. Es ließ sein Gesicht unschuldig, normal und harmlos erscheinen.
»Schön dich zu sehen, John«, sagte er. »Jetzt hast du mich also doch aufgespürt, du alter Teufel.
Wie geht es dir?« Er hielt Rebus seine Hand hin. Doch John Rebus wusste, er würde hilflos
zusammenbrechen, wenn er die Schreibtischkante losließ.
Jetzt konnte er sich wieder ganz genau an Gordon Reeve erinnern, an jedes Detail aus der Zeit,
die sie zusammen verbracht hatten. Er erinnerte sich an die Gesten des Mannes, an seine
Spötteleien und an das, was er dachte. Blutsbrüder waren sie gewesen, hatten zusammen gelitten,
waren fast in der Lage gewesen, die Gedanken des anderen zu lesen. Und Blutsbrüder würden sie
wieder sein. Rebus konnte es in den wahnsinnigen, klaren Augen seines lächelnden Peinigers
erkennen. Er hatte das Gefühl, als ob das Meer durch seine Adern jagte, in seinen Ohren dröhnte.
Das war es also. Das war es, was von ihm erwartet worden war.
»Ich will Samantha«, erklärte er. »Ich will sie lebend, und ich will sie jetzt. Danach können wir
die Sache regeln, wie immer du willst. Wo ist sie, Gordon?«
»Weißt du, wie lange es her ist, dass mich jemand so genannt hat? Ich bin schon so lange Ian
Knott, dass ich von mir selber kaum noch als Gordon Reeve denken kann.« Er lächelte und
warf einen Blick über Rebus' Schulter. »Wo ist die Kavallerie, John? Du willst mir doch nicht
weismachen, du wärst allein hierher gekommen? Das wäre doch wohl gegen die Vorschriften, oder
etwa nicht?«
Rebus hütete sich, ihm die Wahrheit zu sagen. »Keine Sorge, die ist draußen. Ich bin allein
reingekommen, um mit dir zu reden, aber ich hab reichlich Freunde da draußen. Du bist am Ende,
Gordon. Und jetzt sag mir, wo sie ist.«
Doch Gordon Reeve schüttelte kichernd den Kopf. »Na hör mal, John. Das wär doch nicht dein Stil,
jemanden mitzubringen. Du darfst nicht vergessen, dass ich dich kenne.« Er wirkte plötzlich müde.
»Ich kenne dich ja so gut.« Seine sorgfältige Maskerade fiel Stück für Stück von ihm ab. »Nein,
du bist schon allein. Ganz allein. So wie ich es war, erinnerst du dich noch?«
»Wo ist sie?«
»Sag ich dir nicht.«
Der Mann war zweifellos wahnsinnig, vielleicht war er das schon immer gewesen. Er sah so aus, wie
er vor jenen furchtbaren Tagen in ihrer Zelle ausgesehen hatte, am Rande eines Abgrunds stehend,
eines Abgrunds, den er in seinem eigenen Kopf geschaffen hatte. Aber gleichzeitig furchterregend,
aus dem einfachen Grund, weil seinem Wahnsinn nicht mit körperlicher Gewalt beizukommen war. Wie
er da saß, umgeben von bunten Plakaten, Zeichnungen und Bilderbüchern, war er für Rebus der am
gefährlichsten aussehende Mann, dem er je begegnet war.
»Warum?«
Reeve sah ihn verwundert an, wie er so eine kindische Frage stellen konnte. Er schüttelte den
Kopf, immer
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