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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen
Autoren: Steve Toltz
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können es so hören, wie ich es gehört habe, nur zum Teil als die Lebensgeschichte von Terry Dean, überwiegend aber als die Geschichte der ungewöhnlichen Kindheit meines Vaters, die von Krankheit, Nahtoderlebnissen, mystischen Visionen, Ächtung und Misanthropie gezeichnet war, dicht gefolgt von einer durch Vernachlässigung, Ruhm, Gewalt, Leid und Tod geprägten Jugend.
    Aber Sie kennen das ja. In jeder Familie gibt es eine Geschichte wie diese.
     

TOTES RENNEN
    Man hat mir die Frage immer wieder gestellt. Alle wollen das Gleiche wissen: Wie war Terry Dean als Kind? Sie erwarten Geschichten von Gewalt im Schlabberlätzchen und einem Kleinkind mit schwarzer Seele. Sie stellen sich einen winzigen Kriminellen vor, der schon im Laufstall krabbelnd Schandtaten ausheckte, während er aufs nächste Breichen wartete. Absurd! Marschierte Hitler vielleicht im Stechschritt an die Brust seiner Mutter? Na schön, stimmt, es gab Anzeichen, wenn man so etwas hineinlesen wollte. Wenn der siebenjährige Terry beim Räuber-und-Gendarm-Spielen Polizist war, und man drückte ihm einen Lolli in die Hand, dann ließ er einen laufen. Beim Versteckspielen versteckte er sich wie ein Ausbrecherkönig. Na und? Das besagt doch nicht, dass einem Menschen die Veranlagung zur Gewalt in die DNS eingeschrieben sei. Ja, die Leute sind immer enttäuscht, wenn ich ihnen erzähle, dass Terry, soviel ich weiß, ein ganz normales Kind war; er schlief und weinte, er aß und schiss und pinkelte und kam nach und nach dahinter, dass er ein anderes Wesen war als - sagen wir - die Wand (das ist die erste Lektion im Leben: Du bist nicht die Wand). Als Kind rannte er herum und kreischte in der schrillen Tonlage, in der Kinder nun mal kreischen. Er grapschte sich liebend gern giftige Substanzen, um sie sich in den Mund zu stopfen (Kinder haben einen messerscharfen suizidalen Instinkt), und hatte das unheimliche Talent, immer dann zu loszuplärren, wenn unsere Eltern gerade am Einschlafen waren. Alles in allem: ein Kleinkind wie jedes andere. Der Auffällige war ich, wenn auch nur aufgrund meiner Gebrechen.
    Bevor Terry kam, beherrschte die Krankheit unser Leben. Heute wundert es mich, wie wenig ich über meinen eigenen Zustand wusste und wie wenig ich wissen wollte. Mich interessierten einzig und allein die Symptome (heftige Bauchschmerzen, Muskelschmerzen, Brechreiz, Benommenheit), die zugrunde liegenden Ursachen erschienen mir irrelevant. Die hatten nichts mit mir zu tun. Enzephalitis? Leukämie? Immunschwäche? Was es wirklich war, weiß ich bis heute nicht. Und als ich dann so weit war, dass eine echte Antwort mich interessiert hätte, waren alle, die mir eine hätten geben können, längst tot. Ich weiß, dass die Ärzte ihre Theorien hatten, aber sicher waren sie sich nicht. Ich erinnere mich lediglich an bestimmte Ausdrücke wie »Muskelfehlbildung«, »Störung des Nervensystems« und »Euthanasie«, die damals wenig Eindruck auf mich machten. Ich weiß noch, dass ich mit Nadeln gestochen wurde und man mir Pillen in den Schlund stopfte, die so groß waren wie ein geschwollener Daumen. Und dass sich die Ärzte, wenn sie Röntgenaufnahmen machten, so schnell verdrückten, als hätten sie einen Silvesterkracher angezündet.
    Dies alles trug sich zu, bevor Terry zur Welt kam.
    Dann, eines Tages, verschlimmerte sich mein Zustand. Das Atmen fiel mir schwer, das Schlucken dauerte eine Ewigkeit, meine Kehle war staubtrocken, und ich hätte wer weiß was gegeben für ein bisschen Speichel. Meine Blase und mein Darm machten sich selbstständig. Ein teiggesichtiger Doktor kam zweimal am Tag und unterhielt sich am Fußende meines Bettes mit meiner besorgten Mutter, als läge ich im Zimmer nebenan. »Wir könnten ihn ins Krankenhaus bringen«, sagte er, »aber wozu? Da ist er hier besser dran.«
    Das war zu der Zeit, als ich mich zu fragen begann, ob ich sterben würde und ob man mich auf dem neuen Friedhof dieser neuen Stadt beerdigen würde. Während ich an der Schwelle des Todes stand, waren sie noch dabei, die Bäume zu fällen. Würde er rechtzeitig fertig werden?, fragte ich mich. Wenn ich abnippelte, bevor sie ihn fertig hatten, würde man mich zu einem Friedhof in irgendeiner fernen Stadt karren, in der ich nie gelebt hatte, ihre Bewohner würden an meinem Grab vorübergehen, und keiner würde dabei denken: Ich kannte ihn. Unerträglich! Also dachte ich mir, wenn ich den Tod noch ein paar Wochen hinauszögern, wenn ich das Timing gut hinkriegen würde,
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