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Vater. Mörder. Kind: Roman (German Edition)

Vater. Mörder. Kind: Roman (German Edition)

Titel: Vater. Mörder. Kind: Roman (German Edition)
Autoren: Giampaolo Simi
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Schmeißt den Schlüssel weg, ist besser für ihn.«
    Dein Schwager schrie nicht einmal. Es war die gleiche eintönige und nasale Stimme wie immer.
    »Nur vierzehn Jahre? Ihr seid die wahren Verbrecher hier! Vierzehn Jahre! Meine Schwester sieht aus dem Himmel zu, und sie wird auch bei euch sein, wenn ihr heute Abend zu euren Kindern heimkehrt!«
    Dein Schwager wandte sich nicht an dich, er sah dich nicht einmal an.
    Für ihn warst du längst gestorben.
    Dein Anwalt zeigte sich zufrieden. Er sagte, ihr würdet in Berufung gehen, einen Antrag auf mildernde Umstände und Aufhebung der Nebenstrafen stellen. Die vierzehneinhalb Jahre seien rein hypothetisch, versprach er dir. Alles laufe nach Plan. Nach drei oder vier Jahren bekämst du Hafterleichterung wegen guter Führung, später dann Freigang und offenen Strafvollzug. Natürlich könnest du nicht wissen, dass die Gefängnisse aus allen Nähten platzten und jeder Direktor froh sei, wenn er Insassen loswerde. Den Überwachungsrichtern reiche es schon, wenn man ihnen nach Aktenlage nicht vorwerfen könne, dass ein Entlassener fähig sei, einen Mitmenschen wegen eines schiefen Blicks zu erdrosseln. Im Normalfall würde nach ein paar Jahren niemand mehr nach dem Strafmaß fragen. Die Zeit sei ein langsamer, mächtiger Fluss, der alles mitreiße: Hass, Schmerz und vor allem Energie.
    »Ich bin nicht sicher, ob das für mich zutrifft«, hast du gesagt.
    Für dich lief es sogar noch besser. Nach exakt fünf Jahren bekamst du Straferlass. Die bereits erfolgte Rehabilitation bewirkte eine zusätzliche Strafminderung, was das Ende deiner Haftstrafe noch näher rücken ließ: vom fernen 2014 auf 2010, ein Jahr, das man am Horizont sah und von dem man zum Beispiel schon wusste, dass Südafrika die Fußball-WM ausrichten würde. Zu dem Zeitpunkt warst du seit vier Monaten auf der Insel. Du warst wieder in Form, es ging dir sogar besser als in deinem Leben als Vertreter. Wegen der körperlichen Arbeit musstest du dich ständig mit Sehnenentzündungen herumschlagen, aber es machte dir keine Angst mehr, von Wasser umgeben zu sein. Auf Freigänge hast du lieber verzichtet. Bei bewegter See konnte die Insel tagelang vom Festland abgeschnitten sein, und dir graute davor, in irgendeiner Haftanstalt an der Küste geparkt zu werden.
    Auf der Insel mit dem Frauenprofil war immer Sommer, wenigstens eine Stunde am Tag. Und Pinien, Aloe vera, Palmen und Agaven legten auch im Winter ihr grünes Kleid nicht ab.
    Auf der Insel mit dem Frauenprofil lebten nur Männer. Hier und da ließ ein Garten oder eine Fensterbank auf die einstige Präsenz einer weiblichen Bevölkerung schließen, die wie die Trusker inzwischen erloschen war. Sagenhafte Wesen, die in windigen Nächten umherspukten.
    Doch selbst in den stürmischsten Nächten warst du davon überzeugt, dass es keinem Geist gelänge, diese dreißig Seemeilen zu überwinden, nicht einmal der Todesdämonin mit den langen Flügeln.
    Allerdings legte eines Tages ein Mann die dreißig Seemeilen zurück, um auf der Insel an Land zu gehen: Er war ungefähr in deinem Alter und trug einen Strohhut, ein Leinensakko, einen kastanienbraunen Bart und eine dicke, schwarze Brille. Daran hast du ihn erkannt.
    Du hast ihn den Kollegen deines Blocks vorgestellt, ihm einen Kaffee gekocht und ihm einen Käse aus eigener Herstellung besorgt, frischen Caciotta.
    Walter war gekommen, um ein Schreibseminar auf den Weg zu bringen und eine veritable Bibliothek anzulegen. Nachdem der ConTesto Verlag liquidiert worden war, hatte er mit EU-Mitteln ein Bildungsinstitut aus dem Boden gestampft.
    Bevor er wieder mit dem Patrouillenboot übersetzte, habt ihr euch auf der Mole noch einen Moment unterhalten. In der einsetzenden Dunkelheit flatterten die Möwen unruhig über den zahnweißen Felsen umher, ihr Rufen bekam etwas Unheilvolles.
    »Maria Carla schreibt mir übrigens hin und wieder«, sagtest du, ohne zu erwähnen, dass die frischgebackene Literaturwissenschaftlerin über Jahre hinweg das einzige menschliche Wesen draußen war, das dir irgendein Interesse entgegenbrachte.
    »Das wundert mich nicht, sie war verrückt nach dir«, ließ er dich wissen.
    »Sie lebt jetzt in Leeds und arbeitet als Italienischlektorin. Und sie ist im dritten Monat schwanger.«
    »Wie schön.«
    »Und du? Hast du wieder jemanden?«
    Die Frage überraschte ihn. Wohl aus mehr als einem Grund.
    »Im Augenblick nicht.«
    »Soll ich dir etwas verraten? In meinem Leben als Vertreter wart ihr für
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