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Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition)

Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition)

Titel: Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition)
Autoren: Marc Fitten
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für sie das Problem. Es rief Verachtung hervor. Die breite Masse braucht etwas Unantastbares, und selbst Stalin wusste das. Wer sich angemessen um sie kümmern und sie ernähren will, muss ein Opium für sie haben! Doch die Kapitalisten gingen rücksichtslos über alles hinweg. Sie betatschten und befleckten alles, und selbst ganz belanglose Dinge beugten sich dem Druck des Marktes – ihre geliebten brasilianischen Seifenopern beispielsweise wurden von gellender Reklame für französische Intimtücher und Toilettenpapier unterbrochen! Warum? Wer gestattete das? Was sollte das? Wieso waren gellendlaute Werbespots – viel lauter als das Programm – so laut, dass man ihnen nicht entkam, selbst wenn man aufs Klo ging, wo man sie immer noch hörte. Wieso waren gellend laute Werbeblocks – vier Stück in der letzten Sendung   – Teil der Demokratie? Es war unbegreiflich   …
    Und zu allem Überfluss war der Bürgermeister auch noch jemand, der pfiff!
    Gott sei Dank, dachte sie bei sich, dass sie in einem kleinen Dorf wohnten, tief in der Steppe, mitten im Niemandsland – ach, wie dankbar war Valeria dafür. Sie hatte die Gewissheit, dass selbst das laute Pfeifen des Bürgermeisters auf taube Ohren stieß. Wenn der Bürgermeister – der nur ein oberschlauer Bauer war – pfeifen wollte, machte das nichts aus; niemand Wichtiges würde ihn hören und schlechter über das Dorf denken – wenn die Queen oder der ungarische Präsident den Bürgermeister tatsächlich einmal aus der Ferne pfeifen hören sollten, während sie einander Briefe schrieben, dann würden sie vielleicht kurz aufblicken und sich wundern, das leise Pfeifen aber sofort achselzuckend für den Wind halten, der irgendwo weit weg über ein Zuckerrübenfeld strich – das blecherne Pfeifen des Bürger meisters wäre für ihr Ohr so belanglos wie das welke Laub, das auf vergessenes Jagdgebiet fiel, so belanglos wie der Kandelaber, der in ihrem Arbeitszimmer flackerte.
***
     
    Seit einer Weile brachte der Bürgermeister Fremde mit ins Dorf. Als hätte er intuitiv gewusst, dass er Zuhörer brauchte. Investoren nannte er sie. Früher war fast nie jemand von außerhalb durch ihr Dorf gekommen, so war es gewesen, seit Valeria auf der Welt war. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie als kleines Mädchen mit Freunden deutsche Panzer am Horizont entlangrasen sah, die auf dem Weg nach Russland waren. Dann sah sie, wieder am Horizont, britischePanzer dazustoßen. Die Phalangen schlugen ein paar Tage aufeinander ein. Noch später, als Teenager, sah sie drei Tage lang eine russische Panzerparade am Horizont, die nach Budapest fuhr. Kein einziger Panzer kam je in ihr Dorf. Sie suchten sich immer wichtigere und interessantere Ziele, die zu besetzen sich lohnten. Eigentlich war das eine große Erleichterung, aber manche empfanden es fast als Beleidigung. Das schiere Desinteresse – nicht nur der Panzer – hinterließ bei den Dorfbewohnern tatsächlich so große psychische Schäden, dass sie sich, als die neue Schnellstraße gebaut wurde, hartnäckig gegen ein Schild aussprachen, das zu ihrem Dorf führte.
    »Zu uns zu kommen, ist keinem das Benzin wert«, sagten manche.
    »Wir haben schließlich nur
eine
Thermalquelle«, sagten andere. »Die Touristen gehen besser nach Balaton.«
    Die Zigeuner, die die Straße bauten, zuckten die Achseln und überreichten den Dorfbewohnern das blaue Straßenschild, das sofort in der Dorfkneipe aufgehängt wurde.
    Doch nichts bleibt, wie es war. Und der Bürgermeister hatte die Finger überall im Spiel. Anscheinend kamen jetzt die ganze Zeit Fremde zu Besuch.
***
     
    Valeria betrachtete ihr Werk und nickte. Die blauen Kacheln waren sauber und funkelten. Die Fugen waren schneeweiß. Sie stellte den Eimer auf die Zementstufen. Ein Kind hatte ihr angeboten, sie anzustreichen, aber sie hatte nein gesagt. Ihr genügte es, wenn sie sauber waren. Sie zog den Schrubber aus dem Seifenwasser und nahm die Stufen in Angriff. Unweigerlich musste sie an den Bürgermeister denken und fluchte wieder.
    Was nach und nach aus dem Dorf wurde, hatten die Leute sich selbst eingebrockt – schließlich hatten sie den Bürger meister gewählt. Die Dorfbewohner hatten ihm diesen Posten verschafft. Ihre Nachbarn! Ein völlig unmoralischer, unzuverlässiger, uninformierter Haufen, Leute, die ihre Glanzzeit hinter sich hatten, Alkoholiker, Pädophile, Perverse, ledige Mütter, Waschlappen, Zigeuner, lauter Irrsinnige, wie man sie sich schlimmer kaum
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